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Sorgen des Wirtschaftswachstums

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Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt unter dein Eindruck und Einfluß der politischen Entwicklung, haben sich Wissenschaft und Politik intensiver mit dem Problem des Wirtschaftswachstums auseinandergesetzt. Freilich wurde auch schon früher die Bedeutung des Wachstums für eine Volkswirtschaft anerkannt, aber für die klassische Wirtschaftstheorie, die sich vor allem mit der Preisbildung auf den Märkten unter den Bedingungen der vollkommenen Konkurrenz* befaßte, war das Wirtschaftswachstum insofern kein Zentralproblem, als die Ansicht vorherrschte, daß der freie Wettbewerb mit einem gut funktionierenden Preismechanismus zum größtmöglichsten Wohle aller führe. Auch bestand im 19. und 20. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg schon aus politischen Gründen keine Veranlassung zu einem wirtschaftlichen Umdenken und Weiterdenken. Erst als die Erkenntnis Allgemeingut wurde, daß der Staat eine ökonomische Funktion darstelle und mit Hilfe wirtschaftspolitischer Maßnahmen Konjunkturschwankungen zu vermeiden habe, erlangte im Zusammenhang mit der dynamischen Wirtschaftsbetrachtung die Wachstumtheorie größere Bedeutung. Seit dem zweiten Weltkrieg nun, ohne Zweifel stark beeinflußt von der politischen Entwicklung, die schon bald nach dem Ende des Krieges auf einen Konkurrenzkampf zwischen Ost und West hinauslief, erlebt die Wachstumstheorie eine Blüte, die sicherlich nicht so bald vergehen wird. Es wurde eine Reihe von Wachstumsmodellen entwickelt, die sich vor allem mit der Frage des Gleichgewichts im Wachstumsprozeß beschäftigen.

Es geht dabei kurz gesagt um folgendes: In den Wachstumsmodellen, deren Konstruktion oft mit Hilfe mathematischer Methoden erfolgt, werden die Bedingungen, unter denen eine proportionale Zunahme der Gesamteinkommen und der Produktionskapazität ohne Inflation möglich ist, aufgestellt. Von grundlegender Bedeutung ist dabei, daß einerseits die Zunahme der Einkommen ausreicht, die zusätzlichen Gütermengen auch aufzunehmen, und anderseits der Einkommenszuwachs nicht nur nominal ist, weil der Einkommenssteigerung kein entsprechender Güterzuwachs gegenübersteht

Immerhin hat die moderne Wachstumstheorie bewiesen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, ein Wirtschaftswachstum (= Produktionsertrag wird durch zusätzliche Produktionskapazitäten fortlaufend gesteigert, Wachstum je Kopf der Bevölkerung) in einer Wirtschaftsordnung wie der unseren ohne Gleichgewichtsstörungen zu erreichen. Dies wurde zum Beispiel von Karl Marx in seiner Zusammenbruchstheorie geleugnet; freilich hat Marx unser heutiges gemischt-wirtschaftliches System nicht gekannt, das vom Kapitalismus zu Marx' Zeiten schon sehr weit entfernt ist.

Die Wachstumsrate (der Einkommenzuwachs) ist einmal von der Höhe des sogenannten Kapitalkoeffizienten, zum anderen von der Größe der Sparneigung (Anteil der Sparquote am Einkommen) abhängig, wobei unter „Kapitalkoeffizient“ das Verhältnis einer Nettoinvestition und der durch sie ermöglichten Produktionssteigerung verstanden wird;

(C — %k C = Kapitalkoeffizient,

AP

I = Nettoinvestition, AP = Produktionssteigerung).

Trotz der Flut von Arbeiten, die sich mit Wachstumsfragen beschäftigen, sind aber noch viele Probleme ungeklärt und die Modelle können nicht vorbehaltlos zur Erklärung der Wirklichkeit herangezogen werden. Die Forscher, die diese Modelle entworfen haben und mit ihnen arbeiten, sind sich dieser Schwächen auch vollkommen bewußt. Immerhin ist es doch schon gelungen, der Wirtschaftspolitik Möglichkeiten für ein störungsfreies Wachstum der Wirtschaft aufzuzeigen. Die unmittelbaren Ursachen wirtschaftlichen Wachstums sind die wirtschaftliche Anstrengung, die Ansammlung von Wissen und Kapital.

Die Gründe für die wirtschaftliche Anstrengung sind verschiedenartigster Natur. Eines dürfte jedoch gewiß sein: Die Völker in den westlichen Industriestaaten sind fähig und bereit, wirtschaftliche Anstrengungen zu machen.

* Unter „vollkommener Konkurrenz“ versteht man eine Marktsituation, in der einzelne Wirtschaftssubjekte kein Gut in solchen Mengen kaufen oder verkaufen können, daß sie Einfluß auf die Preisgestaltung nehmen Sowohl die Anzahl der Anbietenden als auch die der Nachfragenden muß daher groß sein.

Aber die Produktion steigt nicht deshalb, weil die Menschen schwerer und länger arbeiten, sondern weil sie produktiver arbeiten, eine bessere Kenntnis der Arbeitsprozesse haben, mehr Kapital einsetzen und die Möglichkeiten für vorteilhafte Spezialisierung, Handelstausch und Investition gut zu nützen verstehen. Das entscheidende Moment für ein wirtschaftliches Wachstum, der Wille zur Wirtschaft und die Fähigkeit, die komplizierte Struktur einer Industriewirtschaft technisch und verwaltungsmäßig zu beherrschen, die Fähigkeit, mit der nötigen Genauigkeit und Schnelligkeit zu arbeiten, ist in den Industriestaaten vorhanden. Aber noch nicht alle Völker besitzen diese notwendigen Voraussetzungen für ein rasches Wirtschaftswachstum, auch wenn dies von ihren Führern nicht wahrgenommen werden will. Vom nationalen Ehrgeiz zu Zwang und Tyrannei ist es dann oft nur ein kleiner Schritt. Der Wille zur Wirtschaft ist eine notwendige Bedingung für ein wirtschaftliches Wachstum. Ohne die Bereitschaft zu einer sorgfältigen und pünktlichen Arbeit gibt es keine funktionierende Industriewirtschaft.

Eine weitere notwendige Bedingung für ökonomisches Wachstum ist das Vorhandensein sowohl von technischen Kenntnissen als auch die Kenntnis der Verwaltungstechnik großer Organisationen. Wirtschaftswachstum erfordert auch ein „Wachstum des Wissens“ sowohl nach der Tiefe, indem Forschung, Grundlagenforschung betrieben wird, ebenso wie alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um Produktionsund Verwaltungstechniken zu entwickeln. Aber auch nach der Breite ist ein Wachstum des Wissens erforderlich. Immer mehr Menschen in den industrialisierten Volkswirtschaften müssen immer mehr Kenntnisse besitzen, um das komplizierte Getriebe in Gang zu halten. Aber Forschung und Verbesserung der Ausbildung erfordern beträchtliche Mittel; sie sind für eine industrielle Gesellschaft ebensolche Investitionen wie die Anschaffung einer Maschine, der Bau einer Straße oder eines Hauses. Eine einfache Weisheit, die aber oft zum Schaden für die gesamte Volkswirtschaft übersehen wird.

Damit eine Wirtschaft wachsen kann, muß auch das Realkapital zunehmen, muß investiert werden. Zumeist bedeutet eine Investition, soweit sie nicht nur der Erhaltung der bestehenden Produktionsanlagen dient, eine Ausweitung der bestehenden Kapazität, das Ausmaß der Produktionsausweitung hängt vom sogenannten „Kapazitätseffekt“ der Investition ab. Dient eine Investition nicht der Steigerung der Produktionskapazität, sondern etwa der Rationalisierung, nimmt also die zur Erstellung einer bestimmten Gütermenge erforderliche Menge an Produktionsmitteln zu, so führt die Investition zu einer größeren Tiefengliederung der Produktion, zu einer Kapitalvertiefung. Den umgekehrten Fall bezeichnet man als Kapitalverkürzung. Steigen Investitionen und Kapazitäten etwa im gleichen Verhältnis, spricht man von Kapitalausweitung. Um das Wirtschaftswachstum zu sichern, muß daher ständig der Produktionsapparat ausgeweitet und verbessert werden.

Aber die Investition hat nicht nur eine reale Seite, sondern auch eine monetäre, und gerade der Kapitalbegriff im monetären Sinn wird im täglichen Sprachgebrauch viel häufiger verwendet als der Kapitalbegriff im realen Sinn. Unter Kapital im monetären Sinn versteht man Geld für Investitionszwecke, Geld in einer bestimmten Funktion. Die Durchführung des Investitionsprozesses ohne inflationistische Begleiterscheinungen, und zwar eines Investitionsprozesses, der ein optimales Wachstum der Wirtschaft sichert — wobei es allerdings, dies soll nicht verhehlt werden, eine Reihe von Auffassungen darüber gibt, wie groß denn eigentlich dieses „optimale Wachstum“ sein soll — ist eine der Schicksalsfragen der westlichen Wirtschaftspolitik. Wieweit es gelingt, sie zu lösen, wird für den Bestand unserer Wirtschaftsordnung von entscheidender Bedeutung sein.

Die österreichische Wirtschaft hat seit dem Ende des Krieges einen raschen Wachstumsprozeß mitgemacht, der nur durch relativ wenige und kurze Perioden eines langsameren Wachstums gebremst wurde. 1952 betrug das Bruttosozialprodukt zu Preisen von 1951 66,7 Milliarden Schilling, 1959 100,2 Milliarden Schilling. Alle Voraussetzungen für ein Wirtschaftswachstum sind in Österreich vorhanden: Die Wirtschaftsgesinnung, das Wissen und auch das Kapital. Bedenklich ist lediglich, daß in Österreich für die Forschung und Ausbildung zuwenig Mittel bereitgestellt werden. Das bezieht sich nicht nur auf das gesamte Schulwesen, einschließlich der hohen Schulen und der Grundlagenforschung, sondern auch auf die Zweckforschung. Schon der Vergleich von Geschäftsberichten ausländischer und inländischer Unternehmungen der gleichen Branche zeigen hier beachtliche Unterschiede. Es sollen aber hier nicht die Gründe erörtert werden, warum dies so ist, sondern es soll lediglich die Tatsache festgehalten werden.

Abschließend soll noch auf zwei für das Wirtschaftswachstum wichtige Faktoren hingewiesen werden, die zwar unter die Wachstumsfaktoren „Wirtschaftsgesinnung, Wissen und Kapital“ subsumiert werden können, aber doch von besonderer Bedeutung sind: Internationale Beziehungen und der Einfluß der politischen Kräfte. Über den Wert der internationalen Beziehungen bedarf es keiner Worte. Die Bedeutung der Außenwirtschaft, des Wissensaustausches und dergleichen gerade für Österreich ist auf der Hand liegend. Aber auch die jeweils dominierenden politischen Kräfte haben einen entscheidenden Einfluß auf das Wirtschaftswachstum. Die Qualität ihrer Arbeit hemmt oder fördert die wirtschaftliche Entwicklung, denn sie setzen die Bedingungen und schaffen den Rahmen für die wirtschaftliche Tätigkeit.

Es wäre zu billig, die Wünschbarkeit des wirtschaftlichen Wachstums ausschließlich damit zu begründen, daß — um ein Beispiel zu geben — der Westen nur, wenn er wirtschaftlich stärker ist, wird oder bleibt, sich gegenüber dem Osten behaupten kann. Der Sinn der Anstrengungen, die Wachstumsgeschwindigkeit zu halten oder gar zu beschleunigen, muß doch wesentlicher sein als das bloße Lebensstandardargument, die Bestrebungen, besser und bequemer zu leben. Ökonomisches Wachstum gibt dem Menschen mehr Macht über seine Umgebung, ist eine notwendige Bedingung, um ihn freier zu machen.

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