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Soziale Krise und Musik

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Ernst K f e n e k, der in Wien geborene Komponist und Schriftsteller, ging 1937 nach Amerika und ist derzeit Leiter des Seminars für Musik an der Hamiline-Universität in St. Paul, Minnesota. \

Wenn ich behaupte, daß die Entwicklung der Musik von sozialen Krisen ehr wenig oder gar nicht berührt wird, so will ich damit nicht sagen, die Kunst wohne in einer völlig eigenen Welt, weitab von den Kämpfen und Mühen der Menschheit. Im Gegenteil, die Musik war immer in höchstem Maße der Ausdruck der Id;en und Gefühle, der Hoffnungen und Enttäuschungen des Menschen in seinem Streben, die Aufgaben dieses Lebens zu bewältigen. Der Krieg in seinen moderneren Formen ist ein solch alles umfassendes

Phänomen, daß viele der Auffassung sind, eine Einwirkung auf ein so feinfühliges Ausdructsmittel, wie es die Kunst ist, müsse unmittelbar -und unausweichlich sein. Trotzdem ist die augenfällige physische Brutalität des Krieges noch kein Grund, um auf dem Gebiete des Geistes und des Gefühls ebenfalls eine entsprechende Heftigkeit der Bewegung hervorzurufen. Ich möchte den Krieg vielmehr als eine gesteigerte Entladung von Spannungen bezeichnen, die sich lange vorher im Reiche der Ideen und Gefühle angesammelt haben.

Halten wir Ausschau nach historischen Analogien, so ist ein Vergleich des letzten Krieges mit den napoleonischen Kriegen sehr naheliegend, denn dieser Konflikt, der an Umfang, Größe, Dauer und Bedeutung dem zweiten Weltkriege ähnlich ist, liegt auch zeitlich nicht so fern, um nicht ungehindert die allgemeinen kulturellen Verhältnisse jener Zeit mit denen unserer eigenen vergleichen zu können. Der größte Komponist der napoleonischen Ära war Beethoven. Er hat zürn Beispiel auch die Angriffe der Franzosen *uf Wien im Jahre 1809 persönlich miterlebt, und doch 2eigen seine Werke nicht die leisesten Spuren jener kriegerischen Ereignisse.

Beethovens Musik zum Beispiel würde uns gewiß mit derselben Gewalt ansprechen, auch wenn Napoleons politisches Gebäude 1“ 15 nicht zusammengebrochen wäre. Die Ursache dieser Wirkjng muß daher in einer Eigenschaft zu suchen sein, die der Musik selbst und nicht den Zeitumständen innewohnt, und diese • Eigenschaft, die die Musik groß macht, nennen wir künstlerische Vollendung. Die Tatsache, daß Beethoven ideologisch sowohl von den Verfechtern der Demokratie als auch von deren Gegnern als ihr Prophet beansprucht wurde, ist ein klarer Beweis dafür, daß seine Größe — unabhängig von der Bedeutung, die seiner Musik im Zusammenhang mit Begleitumständen jeglicher Art zukommen mag — ein elementares Moment ist. Hohe Kunst richtet sich eben auf Universales, das heißt auf solche Geistesund Gefühlsbegriffe, die allen Menschen gemeinsam sind, gleichgültig durch welche besondere Erfahrung diese Begriffe in einem gegebenen historischen Augenblick hervorgerufen werden.

In einer Hinsicht sind die kurzlebigen Auswirkungen des Krieges auf das musikalische Leben aber doch beträchtlich. So ist die Lage der Musik im öffentlichen Leben während des Krieges in der Hauptsache durch zwei einander widersprechende Umstände bedingt. Einerseits w'rd die musikalische Tätigkeit als Ganzes nicht als unmittelbar kriegswichtig betrachtet, was verschiedene mehr oder weniger einschneidende Beschränkungen der finanziellen Zuwendungen für Konzerte, Opern, Musikschulen und dergleichen verursacht. (Das Abziehen von Personal in die bewaffneten Streitkräfte und in die kriegswichtigen Betriebe wirkt sich in derselben Richtung aus.) Andererseits wird geltend gemacht, daß die Wirkung der Musik auf die Gemüter der Menschen viel dazu beiträgt, die innere Widerstandkraft und die Leistungsfähigkeit der am Kriegseinsatz Beteiligten zu steigern. Die aus dieser Auffassung resultierende Förderung kommt fast aus-„ schließlich den verschiedenen Zweigen der Unterhaltungsmusik zugute, da man — ob mit Recht oder Unrecht — vielfach der Meinung ist, daß nur leichtverständliche Musik die gewünsdite Wirkung- auslösen könne. Wenn überdies im Gefolge des Krieges auch in; der ernsten Musik ein Zug zum Konventionellen, sogar Banalen zu beobachten war, dann nicht sosehr deshalb, weil das Publikum eine gesteigerte Vorliebe für das Unproblematische zeigte, sondern eher aus Gründen des zu großen Risikos, das die Veranstalter musikalischer Darbietungen nicht auf sich nehmen wollten. gerichte aus England schildern die dortigen Verhältnisse insoferne verschieden, als in der Zeit der schwersten Luftangriffe das Interesse des Publikums fü' ernste Musik auffällig stark angewachsen war. Die am häufigsten gegebene Erklärung dieser Erscheinung ist die, daß die Menschen unter dem Eindruck der ständigen Lebensgefahr dazu neigen, sich eher nachhaltigen geistigen Werten als oberflächlicher Unterhaltung zuzuwenden. Es ist aber kaum möglich, aus solchen Berichten einen allgemeinen Schluß zu ziehen, ohne genauer zu wissen, welcher Art die Menschen waren, die die beschriebene Reaktion zeigten und welchen kulturellen Schichten sie angehörten. Jedenfalls würde' es auf ein gesünderes V;-hältnis des Publikums zur Kunst hindeuten, wenn das Interesse für ernste Musik nicht auf die Rückwirkung der Todesgefahr zurückgeführt zu werden brauchte.

Es ist schwer, etwas über die Rolle der Musik in der Nachkriegswelt vorauszusagen, weil wir von dieser Welt noch zu wenig wissen. Vergegenwärtigen wir uns den Fall beträchtlicher Veränderungen der politischen und sozialen Verhältnisse, so wird es sich empfehlen, das Schicksal der Kunst in jenen Ländern zu untersuchen, In denen sich schon nach dem ersten Weltkriege große Veränderungen vollzogen haben.

Ein Beispiel dafür ist Rußland. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre wurde sehr viel über che ungeheuren Wandlungen des musikalischen Lebens in diesem Lande berichtet und besonders die Tatsache unterstrichen, daß die Zahl der Zuhörer ins Märchenhafte gestiegen sei. Die Musik sei heute in Rußland Bevölkerungsschichten zugänglich, die vorher nie mit Kunst in Berührung gekommen waren. Bezüglich der Weiterentwicklung der Musik zählt einzig und allein, ob und auf welche Weise diese neuen Verhältnisse die Schöpfung neuer russischer Musik beeinflußt haben. Eine Untersuchung der verfügbaren Beispiele läßt wohl die Vermutung zu, daß die heutigen Sowjetkomponisten, auch dann, wenn sich in Rußland keine Revolution ereignet hätte, in annähernd demselben Stil schreiben würden. Aber es ist auch die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß sie Bedeutendere^ geleistet hätten, wären sie von der Verbindung mit ihren Kollegen im Auslande nicht dauernd abgeschnitten gewesen und hätten sie sich nicht verschiedenen politischen Grundsätzen beugen müssen

In den Ländern Mitteleuropas war nach dem ersten Weltkrieg die Atmosphäre für die Entwicklung fortschrittlicher Bestrebungen auf dem Gebiet der Kunst im allgemeinen günstig, da die öffentliche Meinung bereitwillig alles mit Beifall begrüßte, was von dem .Vergangenen verschieden war. Es ist wohlbekannt, daß diesem Stand der Dinge schon nach weniger als zehn Jahren eine Reaktion schlimmster Form folgte. Auch hier können wir sagen, daß letzten Endes die wirklich bedeutenden Leistungen mitteleuropäischer Komponisten während dieser Zeit kaum so wesentliche

Besonderheiten aufweisen, rfaß sie diese nicht vermutlich auch ohne Krieg und Revolution gezeigt hätten. Die Grundzüge ihrer Entwicklung sind auf die bedeutenden Veränderungen des musikalischen Stils zurückzuführen, die ich während der ersten Dekade unseres Jahrhunderts vollzogen haben.

Die Erfahrung der Vergangenheit läßt erkennen, daß der tätige Anteil an den Künsten in Nachkriegsperioden anzusteigen pflegt, vielleicht als Rückschlag auf den Nachdruck, der während des Krieges auf der manuellen Arbeit, der praktischen Wissenschaft und der leichten Unterhaltung liegt.

Wenn sich also die Musik im großen und ganzen unabhängig von den Wechselfällen des Krieges entwickelt, so soll damit nicht gesagt sein, daß der Musiker von den tragischen Ereignissen, deren Zeuge er ist, nicht berührt wird. Blickt er zurück auf die gewaltige Geschichte seiner Kunst, so sieht er sich selbst als Glied einer Kette, die von keiner der zahllosen Krisen, durch die die Menschheit schritt, jemals unterbrochen wurde. Er ist empfindsamer für die Leiden seiner Mitmenschen als jene, die das furchtbare Gottesurteil vollziehen. Sein Werk gibt den Gefühlen, die der bittere Schmerz aufrührt, und der ewigen Hoffnung, daß dieser Schmerz eines Tages enden möge, Ausdruck. Die unmittelbaren und flüchtigen Ursachen des nie sterbenden Schmerzes können seinen Gleichmut als Künstler kaum trüben, wenn er sich bewußt ist, daß letzten Endes nichts als die gewaltsame Vernichtung seines physischen Selbsts und die völlige Zerstörung seines Werkes den Stempel auslöschen kann, den er der Geschichte seiner Kunst aufgedrückt hat.

(Aus der Zeitschrift „Aesthetic and Art Criticism“, New York 1946)

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