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Sozialismus sucht neue Grundlagen

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Als nach dem Ende des letzten Weltkrieges alles „neu“ beginnen sollte, setzte man auch in unserem Lande auf den Sozialismus, insbesondere auf den britischen, gewisse Hoffnungen. Ein Ende des dogmatischen Marxismus auf der einen und ein starker Wille auf der anderen Seite, Christentum im praktischen Leben zu verwirklichen, werde — so hoffte man damals — der politischen Meinungsbildung eine fruchtbare und konstruktive Diskussionsebene öffnen. Jener Funktionär der Sozialistischen Studentenschaft aber, der sich damals im Auditorium maximum der Wiener Universität zum „Sozialismus der Labour Party“ bekannte, wurde noch in derselben Wahlversammlung von einem seiner Genossen zur Rechenschaft gezogen. So blieb denn in der Folgezeit auch nicht nur jeglicher Einfluß der Labour Party auf die kontinentalen sozialistischen Parteien aus, man gewann vielmehr während der Regierungszeit der Labour Party den Eindruck, der kontinentale Marxismus habe sich im europäischen Sozialismus durchgesetzt.

Seit nun die Labour Party wieder in die Opposition gedrängt wurde, scheinen sich manchenorts rund um die Grabstätte Karl Marx’ Kräfte zu rühren, die erkannt haben, daß der Weg des marxistischen Sozialismus in eine Sackgasse führte und daß sich die Arbeiterbewegung nun um die Neuformulierung ihrer Grundsätze bemühen muß.

Im Mai dieses Jahres hatte bereits die Fabian Society, die seit ihrem Beitritt zur Labour Party um die Jahrhundertwende in dieser geistig die führende Rolle spielte, eine Sammlung neuer Essays ‘ herausgegeben. Diese Essays haben durch ihr Mißtrauen dem Kollektivismus und der Machtkonzentration gegenüber mit dem ursprünglichen, politisch schlagkräftigen Fabianismus wenig mehr gemein. Der Behauptung einer der Autoren, es gehe darum, das sich neuerdings in England entwickelnde soziale und wirtschaftliche System zu sichern, zu vervollständigen und auszubauen, hält der „Economist“ entgegen, es gehe vielmehr um die Neuformulierung der Grundlagen, und hier hätten die „neuen Essayisten sehr wenig zu bieten“. Der Neufabianismus habe gegenwärtig keine Bedeutung, er sei weder Antriebs- maschiene noch Steuerrad. Wenn es ihm nicht gelinge, zeitgerecht eine nėue Philosophie zu entdecken, würde einiges mehr als der bloße Fabianismus zum Sterben verurteilt sein. — Immerhin sind audi die „Fabian Essays“ als Anzeichen innerer Ein- und Umkehr des englischen Sozialismus ein beachtenswertes Symptom.

Von weitaus größerer Bedeutung ist eine Broschüre, die unter dem Titel als erste Gemeinschaftsarbeit von Mitgliedern der „Sozialistischen Union“ veröffentlicht wurde. Die „Socialist Union“ ist eine Gruppe von etwa hundert Mitgliedern der Labour Party, die im Vorjahr gegründet wurde und sich die Aufgabe gestellt hat, in Form von Gruppendiskussionen die Grundsätze des Sozialismus und deren praktische Anwendung in der Politik neu zu formulieren, um sie den übrigen Mitgliedern der Arbeiterpartei zur Kritik wie auch zur Annahme zu präsentieren.

„Sozialismus, eine neue Darstellung der Grundsätze“

Die hier neu dargestellten Grundsätze werden für die allgemeine Parteimeinung typisch gehalten. Der „Manchester Guardian“ belegt dies damit, daß selbst A 111 e e gesagt haben soll, diese Grundsätze „drücken entschieden meine Ansichten und meinen Glauben in weitaus besseren Worten aus, als ich es selbst kann“. Ein prominenter Labourführer, Jim Griffiths, seit vierzig Jahren Parteimitglied und ehemaliger Kolonialminister, hat das Vorwort dazu verfaßt. Aneurin Bevan hingegen hat sich in seiner Zeitung über die „Neudenker“ in der Labour Party lustig gemacht.

In der Arbeiterpartei zeigen sich dieselben Spannungen, die heute in allen sozialistischen Parteien wahrnehmbar sind. Der englische Sozialist hat jedoch dem kontinentalen Sozialisten, man könnte noch richtiger sagen: dem österreichischen Marxisten, das eine voraus, daß er weniger dogmatisch festgefahren und daher geistig beweglicher ist.

Diese Studiengruppe der englischen Arbeiterpartei ist mit anerkennenswerter Gründlichkeit zu Werke gegangen: „Das leichte Vertrauen der Vergangenheit ist dahin, und unser Weg in die Zukunft ist mit Unsicherheit umgeben. Es ist nicht nur das, daß wir nicht wissen, ob diese oder jene Maßnahme das nächste Wahlprogramm kennzeichnen soll. Wir gehen daran, die grundlegendsten Fundamente unseres Glaubens neu zu überdenken.“

1 New Fabian Essays, Turnstile Press 1952, 215 Seiten, mit Beiträgen von R. H. S. Cross- man, C. A. R. Crossland, R. Jenkins, Marg. Colį, A. Albu, J. Mikardo, D. Healy, J. Stradiey.

Der Schritt der sozialistischen Idee von der Propaganda zur Praxis — mäh müßte besser sagen: von der Theorie zur Praxis oder von der Opposition zur Regierung — hatte diese Einkehr notwendig gemacht.

In einer „Abrechnung mit der Vergangenheit“ stellen sich die Autoren die Frage nach dem eigentlich Wesentlichen am Sozialismus. Für die kontinentalen Sozialisten sei diese Frage leichter zu beantworten. Sie erhoben die Lehren Karl Marx’ zu ihrer offiziellen Theorie, die ihnen eine „volle Lebensund Geschichtsphilosophie“ bot. Marx wurde zum Evangelium und blieb es bei den kommunistischen Parteien bis heute. Die britische sozialistische Bewegung hingegen war stets empirischer und toleranter. Sie hatte „niemals Marx zu ernst genommen“. Der große Aufbruch des englischen Sozialismus nach 1880 war daher nicht ein einziger enger Strom von Ideen, sondern eine breite Flut, die aus vielen Strömungen bestand: Fabianismus, christlicher Sozialismus, der „verwässerte“ Marxismus der sozialdemokratischen Union, der Gildensozialismus, die Gewerkschafts- und die Genossenschaftsbewegung usw.

Allen sozialistischen Richtungen war die Idee einer Gesellschaftsreform durch irgendeine Art Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln, verbunden mit zentraler Wirtschaftsplanung, eigen. Dieses Ziel fußte auf zwei Doktrinen: dem Dogma des ökonomischen Determinismus, dem automatischen Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens, und dem Glauben an die Unaufhaltsamkeit des materiellen Fortschrittes. Diesen beiden Lehrmeinungen hingen nicht nur die Sozialisten allein an. Sie entsprachen dem Geist des 19. Jahrhunderts mit seinem rasenden wirtschaftlichen und technischen Fortschritt und der optimistischen Geschichtsphilosophie dieser Zeit.

Mit dieser Selbsterkenntnis haben die britischen Sozialisten erkannt, daß der Kollektivismus und der Individualismus, oder in ihrer politischen Erscheinungsform: der Sozialismus und der Liberalismus, beide den Glauben des 19. Jahrhunderts zum gemeinsamen Vater haben: den Glauben an die Harmonie einer gesellschaftlichen Automatik und an den unaufhaltsamen Fortschritt.

Beiden war die Idee persönlicher Entscheidungsfähigkeit und Verantwortlichkeit, geschweige denn der Glaube an ein Sein über dem Diesseits fremd.

Die christliche Gesellschaftslehre (Johannes Meßner, Götz Briefs und andere) war nicht müde geworden, auf diese gemeinsame geistige Wurzel dieser beiden rivalisierenden gesellschaftlichen Gestaltungskräfte hinzuweisen. Indem sie sich für einen Platz der Ethik im öffentlichen Leben einsetzte, kämpfte sie für die Würde des Menschen. In der Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Sozialismus steht heute Freiheit gegen Freiheit. Die „Sackgasse“ ist heute der generelle Standort jeder gesellschaftspolitischen Diskussion, die sich nicht auf die höhere Ebene personaler Ethik emporschwingen konnte. Für den Liberalismus hat dies Wilhelm Röpke in ehrlicher Offenherzigkeit bekannt. Für den Sozialismus macht nun die „Union“ den entscheidenden Schritt. Beide Bekenntnisse sind von unmittelbarer politischer Bedeutung.

Die Krise des britischen Sozialismus zeigt sich nun, nachdem die Arbeiterpartei wieder in der Führung des Staates abgelöst wurde. Die Folge der Regierungstätigkeit der Partei war „nicht Enttäuschung, aber Verwirrung und geistige Unsicherheit“. Der Zweck des Sozialismus wurde von seinen Mitteln zu wenig klar unterschieden.

Wenn manche „mehr Sozialismus“ forderten, meinten sie mehr Verstaatlichung. Zur selben Zeit aber wurde es bereits klar, daß bloße Verstaatlichung die betrieblichen und sozialen Beziehungen nicht in der Richtung ändern, die wir wünschen. Ihren früheren Überzeugungen zufolge haben die Sozialisten für ein Anwachsen der Staatsgewalt gekämpft. „Heute sind wir weniger sicher… Heute gibt es viele, die sagen, unser Ziel sollte nun Dezentralisation sein, da wir alle gewahr werden, daß die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Gewalt in denselben Händen in Ermangelung von Maßnahmen zur Abwendung.

Absage an den Klassenkampf

Die ethischen Gesichtspunkte waren dem britischen Sozialismus nie ganz fremd, aber durch die Betonung der Gesellschaftsautomatik und des Fortschrittes verdrängt. Die Überzeugung, der Mensch habe auf den Lauf der Geschichte keinen Einfluß und trage daher keine letzte Verantwortung, hatte sich durchgesetzt. Nun müssen die ethischen Grundlagen neu formuliert werden. „Die .wissenschaftlichen’ Dogmen der Vergangenheit waren Enttäuschungen … Heute aber steht der IdeaFst allzusehr in Ungunst.“ Die Fachleute auf Einzelgebieten behaupten das Feld, und der „Hauch der Verachtung“ trifft alle, die nach dem tieferen Zweck fragen. Diese Frage aber ist der „Schlüssel zu künftigen Fortschritten“. — Wahrlich, tiefe Veränderungen sind im Sozialismus vor sich gegangen. Die Ethiker wurden als „Utopisten“ verachtet, als ein klassenloses Zeitalter beginnen sollte. Ein Menschenalter hat genügt, die Ethiker sagen zu lassen: Ihr Wissenschafter nabt an Materialismus und automatischen Fortschritt geglaubt, ihr seid Utopisten, wenn ihr vertraut, daß dieser euer Weg die Gesellschaft befreien wird.

Im Versuch einer ethischen Grundlegung geht die „Union“ davon aus, daß die kapitalistische Ausbeutung der Ausgangspunkt jedes sozialistischen Denkens ist. „Das Übel der Ausbeutung aber begann nicht erst mit dem Kapitalismus.“ Seit dem Beginn menschlicher Zivilisation wurde die Macht in ihren verschiedenen Formen zur Bereicherung auf Kosten des Schwächeren mißbraucht. „Es war nicht die einfache Tatsache — laßt uns dies klar feststellen —“, rufen sie nun aus, „daß die Produktionsmittel in Privatbesitz standen, was zur Ausbeutung führte.“ überdies besteht die Ausbeutung aus der Zeit des Hochkapitalismus heute in England nicht mehr. Gewerkschaftsbewegung, Vollbeschäftigungspolitik haben die Lage gewaltig geändert.

Als Konsequenz dieser Erkenntnisse wird dem Klassenkampf an vielen Stellen eine Absage erteilt, die auch von Nichtsozialisten nicht schärfer formuliert werden könnte: „Unsere Gesellschaft ist nicht länger in zwei verschiedene Klassen geteilt, die eine Kluft trennt. Heute wird Macht durch die Stellung ausgeübt wie durch den Besitz. Manager, Direktoren, sogarGewerkschaftsfunktionäre haben Schlüsselstellungen inne und Privilegien haben sich in neue Formen gekleidet.“ Die Labour Party ist keine Klassenpartei mehr. „Sie ist eine Volkspartei (National Party), in welcher viele einander entgegengesetzte Interessen ein Zuhause Bilden.“ Die marxistische Klassenidee wird schlechtweg als „Mythos“ bezeichnet. „Mitglieder der privilegierten Klasse haben im Kampf um eine bessere Gesellschaft auch eine wichtige Rolle gespielt; und einige der Unterdrückten haben teilweise nur rebelliert, um für sich selbst neue Privilegien zu erobern.“ Schließlich stellen sie sich die Frage, ob es in einem demokratischen Lande erwünscht wäre, den Klassenkampf aufzustacheln, und geben die Antwort: „In dieser Art von Feindseligkeit liegen genug Gefahren, wie Sozialisten während ihrer Amtszeit erfahren haben. Demokratie braucht Kompromißbereitschaft und den Versuch zum Ausgleich der widerstrebenden Interessen.“

Es ist hier nicht der Raum, auf alle Erkenntnisse dieser sozialistischen, wahrhaft fortschrittlichen Gruppe einzugehen. Wenn man ihre Bemerkungen über die bisherige Einstellung der Sozialisten zur Frage der Produktivitätssteigerung liest, glaubt man, in den Werken eines christlichen Sozialpolitikers, etwa Theodor Brauers, zu blättern. In ihrer Formulierung des Subsidiäri- täts prinzips, des Grundsatzes vom Vorrecht der untergeordneten Gemeinschaft; die Notwendigkeit und Frucht der Zusammenarbeit erlebe man am leichtesten von unten her, in der Familie, dann in der Nachbarschaft, in der Stadt und in der Nation, beziehen sie sich ausdrück- lieh auf „moderne Soziologen“. Als diese sind unschwer die christlichen Naturrechtler zu erkennen. Das Prinzip des Vorrechtes der untergeordneten Gemeinschaft war stets ein Kernstück ihrer Lehre. In ihrer Erkenntnis, daß in der Gesellschaftsreform der Politik noch manches möglich sei, aber „in der Sphäre des menschlichen Geistes die Macht der Politik beschränkt“ ist, haben sie die Grenzen des Parteisozialismus erreicht.

Das offizielle Parteiorgan der österreichischen Sozialisten hat zwar einem wohlwollenden Bericht seines Londoner Korrespondenten über diese „neue Darstellung der Grundsätze“ die Leitartikelspalte zur Verfügung gestellt, die Partei scheint aber von diesen Erkenntnissen noch weit entfernt zu sein. Heute wird im österreichischen Sozialismus noch darüber diskutiert, auf welcher Stufe einer vermeintlichen dialektischen Klassenentwicklung wir jetzt stünden. Einer, der schlechtweg behauptet: „Auf der historischen Tagesordnung steht als erster Punkt nicht das Programm des konstruktiven Aufbaues, sondern der Kampf um die Macht“ (Josef Hindels in der „Zukunft“, März 1952), wird als Diskussionspartner noch ernst genommen. — Für wann dürfen wir in Österreich auf eine „neue Darstellung der Grundsätze“ hoffen?

aber unser Diplomat solcher Träumereien und Spielereien hingibt, wird die deutsch- japanische Spannung immer drohender, und die Welt verharrt in einem äußerst labilen Gleichgewicht, da die eingeleitete Remilitarisierung Frankreichs und der USA auf zahlreiche psychologische Hemmnisse stößt. Während in Paris Flugzettel verteilt werden, die mit einem Hoch auf den Mikado schließen, kommt es in Korea bereits zu Kampfhandlungen, und man munkelt, daß der seinerzeit von den Japanern gefangene US-General MacSaulus noch eine Rolle spielen werde. Der Kern der Schwierigkeiten liegt darin, daß sich Paris mit allen Mitteln gegen die Remilitarisierung der USA zur Wehr setzt. Wer garantiert uns, daß die amerikanischen Heeresgruppen, die gegen die Japaner kämpfen sollen, sich nicht im entscheidenden Augenblick auf die Seite des Mikado schlagen werden? fragt man am Quai d’Orsay, um schließlich doch mit einem Kompromiß herauszurücken.

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