6534726-1946_10_01.jpg
Digital In Arbeit

Sozialistische Parteien und europische Demokratie

Werbung
Werbung
Werbung

In den letzten Wochen haben innerhalb der größten sozialistischen Parteien des europäischen Kontinents, in dtt französischen sozialistischen Partei und in der deutschen Sozialdemokratie, Auseinandersetzungen stattgefunden, die es verdienen, sorgsam beobachtet zu werden. Geht es doch bei diesen inneren Parteikämpfen um die Frage, ob eine proletarische Einheitsfront gebildet werden soll oder nicht, ob zwischen Sozialisten und Kommunisten eine Zusammenarbeit, ja ob eine Verschmelzung beider Gruppen erfolgen soll. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um ein sehr ernstes Problem, in innenpolitischer Hinsicht sowohl als auch in außerpolitischer. Es hängt heute der Charakter der Politik eines jeden europäischen Landes zu einem wesentlichen Teil davon ab, ob in dem betreffenden Staate eine starke Sozialdemokratie oder eine sozialistisch-kommunistische Einheitsfront besteht oder gar eine völlige Verschmelzung der beiden traditionellen Lager des Marxismus eintritt — was nach dem Urteil auch völlig unbefangener und neutraler Beobachter gleichbedeutend wäre mit einer starken Tendenz zu einem Einparteiensystem. Aber alle Theorien, daß auch eine Einparteiendemokratie durchaus möglich sei, ändern nichts an der Tatsache, daß eine europäische Demokratie und ihr reibungsloses Funktionieren nur durch die Existenz mehrerer Parteien gesichert erscheint.

Es sei nur nebenbei erwähnt, daß es auch eine außenpolitische Voraussetzung für das Nebeneinander sozialistischer und kommunistischer Parteien in den europäischen Ländern gibt: das Nebeneinander des kommunistischen russischen Systems und des Reformsozialismus der englischen Labourparty.

In der Sozialistischen Partei Frankreichs ist ohne Zweifel ein starker Zug zur Annäherung an den Kommunismus zu beobachten. Wenn am 24. Februar bei einer Pariser Sitzung der Sozialistischen Partei von Delegierten aus allen Teilen Frankreichs — aber charakteristischerweise in Abwesenheit Leon Blums — beschlossen wurde, den Satz im ersten Artikel des Parteiprogramm von Leon Blum, in dem als das Parteiziel hingestellt wird, „das Individuum von aller Knechtschaft zu befreien“, durch die frühere Erklärung zu ersetzen, daß die Partei ihren Klassenkampf „fortsetzen werde mit dem Ziel, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu zerstören und der kollektivistischen oder kommunistischen Gesellschaftsordnung zum Siege zu verhelfen“, so liegt darin ein deutliches Zeichen der zunehmenden Radikalisierung innerhalb de s französischen Sozialismus. Dabei wurde über die Einfügung der Worte „oder kommunistisch-' in die Entschließung besonders abgestimmt. Der Parteikongreß, der in diesem Monat stattfinden soll, wird nun darüber zu entscheiden haben, wie weit die Sozialistische Partei Frankreichs auf dem Wege der Annäherung an die Kommunisten zu gehen bereit ist.

Kann man mithin in Frankreich die Tendenz beobachten, das innere Gefüge der Sozialistischen Partei zu radikalisieren, so lassen sich in Deutschland deutliche Neigungen zu einer bewußten Entwicklung zur Mehrparteiendemokratie feststellen. In der russischen Zone hat sich die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Parteifunktionäre für eine Verschmelzung der sozialdemokratischen Partei mit der kommunistischen Partei entschieden. Aber nach den Worten des Führers der Sozialdemokraten der britischen Zone, Dr. Schumacher, ist diese Verschmelzung nur „unter Druck“ zustande gekommen. Vor allem aber hat diese Fusion der beiden Linksparteien in Ostdeutschland in den westlichen Zonen, in der britischen und amerikanischen, eine ziemlich heftige Gegenbewegung ausgelöst, die faktisch dazu geführt hat, daß sich in ihnen Sozialdemokraten und Kommunisten mehr voneinander entfernt haben denn jemals vorher. Es ist ungemein charakteristisch, was der sozialdemokratische Parteiführer der westlichen Zone nach seiner Rückkehr aus Berlin über die Fusionsvorgänge mitteilte. Ein Zusammenschluß,der von der überwältigenden Mehrheit der

Sozialdemokraten abgelehnt werde, würde nur bedeuten, daß die Kommunisten die Führung in der Sozialdemokratie übernehmen würden. Vor allem aber würde eine .Einheitsliste zwangsläufig das Ende der Demokratie bedeuten. Die Sozialdemokraten würden auch versuchen, eine Aktivität der in Berlin geschaffenen Einheitspartei in Westdeutschland zu verhindern.

Die Politik Dr. Schumachers ist ein Beweis für den eminent demokratischen Charakter der reichsdeutschen Sozialdemokratie, der sie schon vor 1933 auszeichnete und der sie in der gegenwärtigen furchtbaren Lage, in der sich Deutschland befindet, neben den Gruppen, die in der christlich-demokratischen Union vereinigt sind, zu einem aufbauenden Element in dem im Entstehen begriffenen demokratischen Deutschland der Zukunft werden läßt. Viel

'wird freilich davon abhängen, ob Deutschland in der nächsten Zeit als ein einheitlicher Verwaltungskörper behandelt wird oder ob sich die einzelnen Zonen auseinanderentwickeln werden. Immerhin kann schon heute festgestellt werden, daß alle Anzeichen dafür sprechen, daß sich Deutschland, gerade soweit die breiten Volksschichten in Betracht kommen, . im Sinne einer gemäßigten Mehrparteiendemokratie entwickeln dürfte und nicht in irgendeiner radikalen Richtung.

Interessant ist die Stellungnahme der amerikanischen Besatzungsbehörden zur Frage einer Fusion der sozialdemokratischen und kommunistischen Partei. Wie der Oberbefehlshaber der amerikanischen Zone, General Clay, erklärte, hätten die Vereinigten Staaten nichts gegen eine VerSchmelzung, vorausgesetzt, daß sie auf einer breiten demokratischen Grundlage vor sich gehen würde. Gerade dies indessen erscheint angesichts der Haltung weiter Arbeiterkreise Deutschlands als nicht wahrscheinlich.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Existenz zweier marxistischer Parteien, einer demokratischen sozialistischen Reformpartei, die mit dem organischen Dasein bürgerlich-demokratischer Parteien von Anfang an rechnet, und einer kommunistischen, sich in fast allen Staaten Europas und so auch in Frankreich und in Deutschland gleichsam als ein natürlicher Zustand herausgebildet hat: mit diesem zu rechnen wird in der nächsten Zeit der europaischen Demokratie eine Selbstverständlichkeit bedeuten. ' .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung