Landminen - © Foto: Landmine Survivors Initiatives

Späte Einschläge

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Auch ein Vierteljahrhundert nach Ende der Jugoslawienkriege sterben in Bosnien und Herzegowina jedes Jahr Menschen durch Landminen. Wie geht es jenen, die überlebten?

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Auch ein Vierteljahrhundert nach Ende der Jugoslawienkriege sterben in Bosnien und Herzegowina jedes Jahr Menschen durch Landminen. Wie geht es jenen, die überlebten?

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Wenn die Kinder in die Schule mussten, dann gingen sie durch die Wände. Zuvor vom Kabinett ins Wohnzimmer, wo früh am Morgen noch die Oma schlief. Über den schmalen Vorraum hinaus aus der Wohnung, das Stiegenhaus hinunter, durch eine Stahltür in den Innenhof. Und dann schon durch die erste Wand. Dahinter lag der nächste Hof, in ihm standen zwei Holzbänke und drei hohe Linden, unter denen manchmal Wäsche hing. Von dort gingen sie durch die nächste Wand, durch die nächste Mauer, in den nächsten Hinterhof. Draußen lauerten die Projektile der serbischen Scharfschützen, an jeder Ecke, rund 18 Stunden täglich, 1425 Tage am Stück. Also schlugen die Mieter der Wohnblocks im belagerten Sarajevo Löcher in die Mauern zwischen den Höfen, die so groß waren, dass ein Mensch hindurch passte. Und die Kinder stiegen am Weg zum Unterricht von Hinterhof zu Hinterhof. Bis sie irgendwann auf einen Gehsteig traten, in einer engen Nebenstraße, die direkt zum Schulgebäude führte. Und die die serbischen Sniper aus den umliegenden Bergen nicht mehr ins Visier nehmen konnten.

Auf dem falschen Quadratzentimeter

Erzählt Husein Jezvin vom Krieg, kneift er die Augen zusammen. Die Toten, die Gräuel, die Massaker, das weiß Husein, sind die eine Seite des Krieges. Die Langzeitfolgen, die Traumen, die psychischen wie die körperlichen, die andere. Husein lebt in einem gepflegten Haus in den Hügeln, Balkonblumen, Weinlaube, Hollywoodschaukel im Vorgarten. Wenn er durch die wilde Botanik seines Gartens streunt, dann zieht er das linke Bein leicht schleppend hinter sich her. Im kleinen Gewächshaus mitten auf der Wiese sind die Tomaten noch grün, ein paar Meter weiter unten, neben dem rauschenden Bächlein, ein gutes Dutzend Bienenstöcke. „Die bekommen hier in den Hügeln nur das beste Futter“, sagt Husein, leicht ergraut, Baumwoll-Jogginghose, schwarze Hausschlapfen, und grinst. Seine Augen kneift er auch beim Grinsen zusammen, und rundherum bilden sich unzählige kleine Fältchen. Husein hat vier Kinder, inzwischen alle erwachsen, und Zwillinge als Enkelkinder. Und Husein hat Phantomschmerzen. Immer wieder. Vor allem, wenn das Wetter wechselt.

Früher, da hatte Husein auch ein kleines Haus in den Wäldern. Und als er an einem sonnigen Herbsttag, es war 1994 und es tobte noch der Bosnienkrieg, nach seinem Waldhaus sehen wollte, das er schon lange nicht mehr betreten hatte, da tat es plötzlich einen gigantischen Knall, den sie auch zwei Dörfer weiter noch hörten. Husein hatte Glück, so muss man das wohl nennen. Denn die Mine, auf die er an diesem Herbstnachmittag trat, zerfetzte ihm den Unterschenkel. Aber sie zerfetzte nicht seinen ganzen Körper, so wie jenen von tausenden anderen Menschen, die ihren Fuß zur falschen Zeit auf den falschen Quadratzentimeter gesetzt hatten. Auch Huseins Vater war einer von ihnen. Keine vier Jahre nach dem Unfall seines Sohnes, der Krieg war längst vorbei, setzte auch er seinen Fuß auf das falsche Fleckchen Erde. Mit einem amputierten Unterschenkel kam er nicht davon. Er starb noch im Moment der heftigen Explosion. „Eine Generation baut etwas auf in ihrem Land“, sagt Husein. „Dann gibt es einen Krieg, und die nächste Generation zerstört wieder alles, was die vorige aufgebaut hat.“

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