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Korrespondenz aus Sofia druckt "Lettre International" ab : eine bulgarische Antwort auf den EU-Stehklo-Streit und neue Nationalismen.

Die bulgarischen Reaktionen auf das Skulpturenensemble Entropa von David Cerny in Brüssel werden in die Annalen der zeitgenössischen Kunst eingehen. Bekannt ist, daß das umstrittene Werk aus 27 symbolischen Darstellungen der Mitgliedsländer besteht, die angeblich von Künstlern aus den jeweiligen Ländern angefertigt wurden. Von Hand einer gewissen Elena Jelebova fand sich Bulgarien als ein Stehklo wiedergegeben, das zu allem Überfluß noch als "türkisch" bezeichnet wurde - ein schwerer Schlag für ein nationales Selbstbewußtsein, das sich seit Jahrhunderten an seiner antiosmanischen Heldenfolklore aufrichtet. Hätte man die Hocktoilette "altrömisch", "japanisch" oder auch nur "naturnah" genannt, wäre die künstlerische Botschaft des Werkes wohl zum größten Teil verpufft. […]

Nach einigem diplomatischen Tauziehen wurde der bulgarische Teil des Kunstwerks mit einem kleinen schwarzen Vorhang verhüllt. […] Doch alsbald fragte sich die bulgarische Fachwelt, ob die Verschleierung des Stehklos nun Bulgariens Ehre rette oder ob sich das Land damit nicht endgültig lächerlich mache. Einige Zeit versuchten patriotisch gesinnte Journalisten in Bulgarien, öffentliche Empörung zu erzeugen.

Geht nicht um kunsttheoretische Minenfelder

Zu ihrer Überraschung mußten die Journalisten feststellen, daß das Publikum am Telefon in der meisten Zeit anders reagierte als erwartet: "Es stimmt, Bulgarien ist ein Scheißloch. Die korrupten Politiker haben das Land ruiniert", hieß es etwa. Immerhin relativierten einige Befragte, daß man Ausländern auch dann nicht erlauben sollte, derartige Dinge über Bulgarien zu sagen, wenn jeder weiß, daß sie zutreffen. […] Dennoch muß man sagen, daß die kunsttheoretischen Minenfelder rund um Entropa nicht das sind, worum es in dieser Auseinandersetzung wirklich geht. Denn in den letzten Jahren kommt es immer häufiger vor, daß die bulgarische Öffentlichkeit gegen irgendeine "herabwürdigende Darstellung" von ausländischer Seite mobilisiert wird. […]

Stolz umgekehrt proportional zu Politikkompetenz

Wie in Pakistan scheint auch in Bulgarien der Stolz, mit dem das Bild der Nation aufgeladen ist, umgekehrt proportional zu jener Entschlußkraft, die man zum Lösen wirklicher gesellschaftlicher Probleme braucht. Statt gegen Entropa zu wettern, hätten Bulgariens Eliten zum Beispiel eine Kampagne zur Renovierung der Toiletteninstallationen starten können. In einem Land, das jedes Jahr von 8 Millionen Touristen besucht wird, wäre das keine schlechte Idee. […] Über die Wirtschaftskrise und die Streichung von EU-Fördergeldern wegen der grassierenden Korruption, über die wachsende Unzufriedenheit unter Bauern, Studenten und Polizisten, über den Zusammenbruch der Infrastruktur, des Bildungssystems, und vieler Ökosysteme wird heute in Bulgarien noch nicht einmal gesprochen.

Neben staatlichen Institutionen sind kommerzielle Medien die wichtigsten Akteure in der Öffentlichkeit. Sie wissen, daß sich Leidenschaft am besten verkauft und daß das Ausschlachten einer nationalen Kränkung die Leidenschaften des Publikums erregt. Kämpfe auf imaginärem Gebiet haben außerdem den Vorteil, die beteiligten Journalisten in keinerlei Interessengegensatz zu einem Politiker oder wichtigen Geldgeber im Land zu bringen. Die Würde und das Selbstbild der Nation sind reine Ästhetik ohne Folgewirkungen. Sie dienen im Sinne der Psychoanalysen als Projektionsflächen. Sie sollen unser Bewußtsein vor der bitteren Einsicht schützen, daß wir uns in einem Landstrich befinden, der sich vom restlichen Europa immer weiter entfernt.

* Lettre International 84, Frühjahr 2009

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