Strukturiert unzufrieden

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Rumäniens Bürger haben sich zur größten Protestbewegung seit dem Sturz Nicoale Ceausescus formiert. Auch der Rücktritt des Premiers kann sie nicht beruhigen.

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Rumäniens Bürger haben sich zur größten Protestbewegung seit dem Sturz Nicoale Ceausescus formiert. Auch der Rücktritt des Premiers kann sie nicht beruhigen.

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Wir haben es satt!", rufen sie. Oder "Alle Parteien - ein und dieselbe Misere!" Und immer wieder: "Korruption tötet!". Tausende Menschen gehen derzeit Tag für Tag in Rumänien auf die Straße, in der Hauptstand Bukarest, aber auch in vielen anderen Städten, und demonstrieren gegen die Machthaber im Land. Sie haben bereits den Rücktritt der Regierung des Ministerpräsidenten Victor Ponta erzwungen. Doch das reicht ihnen längst nicht aus. Sie fordern nichts weniger als den Abtritt der gesamten politischen Klasse und eine radikale Erneuerung des Staates.

Ausgelöst wurde die größte Protestbewegung seit dem Sturz des Diktators Nicolae Ceausescu 1989 durch eine verheerende Brandkatastophe im Bukarester Rockmusik-Klub "Colectiv". Während eines Konzertes fing bei einer pyrotechnischen Vorführung eine Schallisolierung Feuer. 46 Menschen starben, mehrere Dutzend Konzertbesucher schweben noch in Lebensgefahr.

Der Schock nach dem Brand

Zunächst war Rumänien unter Schock - die Brandkatastrophe war die schlimmste in der postkommunistischen Geschichte des Landes. Schnell kam heraus, dass Schlamperei und Korruption für die Katastrophe verantwortlich sind. Der Klub hatte keine Brandschutzgenehmigung und seine Betriebsgenehmigung nur durch falsche Angaben seiner Besitzer und wohl auch nur durch Bestechung von Beamten im zuständigen Bürgermeisteramt des Bukarester Stadtbezirkes Nr. 4 erhalten. Inzwischen sitzen die drei Klubbesitzer in Haft, außerdem der Bürgermeister des Stadtbezirkes Nr. 4 und die Organisatoren der pyrotechnischen Vorführung - gegen sie wird unter anderem wegen fahrlässiger Tötung ermittelt.

Zugleich kam ans Licht, dass der Klub "Colectiv" kein Einzelfall ist. In Restaurants, Klubs, Bars, Diskotheken oder Kinos werden Brandschutzvorschriften praktisch nirgendwo im Land eingehalten. Und nicht nur dort: So erfüllen nur sieben Prozent aller Schulen die Vorschriften des Notfallinspektorates - Zustände, die nach dem ersten Schock über das verheerende Feuer im Klub "Colectiv" schnell landesweite Empörung und Wut auslösten. Der Staatspräsident Klaus Johannis brachte das Empfinden vieler Bürger in einem programmatischen Satz auf den Punkt: "Wir dürfen die Inkompetenz von Behörden und die Ineffizienz von Institutionen nicht mehr dulden, wir dürfen es nicht zulassen, dass die Korruption sich ausbreitet, bis sie tötet", sagte Johannis zwei Tage nach der Tragödie in einer Videobotschaft. "Korruption tötet", ist seitdem der Slogan der machtvollen Straßenproteste.

"Die Leute, die jetzt auf die Straße gehen, verlangen etwas ganz Allgemeines, und zwar, dass sich die Qualität des Regierens entscheidend verbessert", sagt Sorin Ionita, der Chef des Bukarester Think Tanks Expertforum. "In Rumänien geht man jetzt für Prinzipien auf die Straße, nicht für bessere Gehälter oder für niedrigere Schulgebühren. Das ist eine große Sache."

Korruption und Politik

"Es gibt in Rumänien eine strukturelle Unzufriedenheit mit dem Alltagsleben", erklärt der Soziologe Marius Pieleanu die Vehemenez und Radikalität der Protestierenden. "Unzufriedenheit über die Schwierigkeit, eine adäquate Bildung oder medizinische Versorgung zu bekommen, wofür man ja immerhin bezahlt, außerdem Unzufriedenheit über den hohen Grad der Korruption."

Das beredteste Beispiel für diese strukturelle Korruption und gleichzeitig nur die Spitze des Eisberges sind der zurückgetretene Regierungschef Victor Ponta und seine Sozialdemokratische Partei (PSD). Ponta steht wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung in großem Stil vor Gericht, die PSD gilt seit langem als Inbegriff für Korruption in der Politik. Allein aus der Anzahl der in den letzten Jahren verurteilten Minister und hohen Staatsbeamten, die den Sozialdemokraten angehörten, könnte man eine ganze Regierungsmannschaft zusammenstellen. Nicht viel weniger korrupt sind allerdings auch die meisten anderen Parteien. Zugleich gibt es neben dieser High-Level-Korruption auch die kleine im Alltag: Einfache Bürger zahlen Schmiergeld in Behörden, beim Arzt, in Schulen, Universitäten oder bei der Jobsuche.

Vor dem Hintergrund der Unzufriedenheit mit diesen Verhältnissen wurde vor fast genau einem Jahr der politische Außenseiter Klaus Johannis zum Staatspräsidenten gewählt - verknüpft mit riesigen Erwartungen. Nun, ein Jahr später, erklärt sich Johannis mit den Straßenprotesten solidarisch. Vergangene Woche lud er Vertreter der Zivilgesellschaft und der Demonstranten zu einer Konsultation ein, am Sonntagabend begab er sich persönlich zu Protestierenden auf den Universitätsplatz, um mit ihnen zu sprechen. Doch Johannis dämpft die Erwartungen: "Mit einem simplen Regierungswechsel sind Rumäniens Probleme oder auch nur die der politischen Klasse im Land nicht gelöst", sagte er letzte Woche in einer Ansprache. "Es bedarf viel mehr. Ich bin bereit, jene Schritte zu unterstützen und zu vollziehen, die zu einer anderen Politik führen - eine Politik für Bürger, eine berechenbare Politik."

Der Fluch auf der Gemeinschaft

Zu einem dieser Schritte zählt für Mircea Cartarescu, einen der bedeutendsten rumänischen Schriftsteller der Gegenwart, auch selbstkritisches Reflektieren der Protestbewegung. "Die derzeitige Revolution ist eine gegen Korruption, dem Fluch unserer Gemeinschaft", schreibt er auf seiner Facebook-Seite. "Aber wir erinnern uns nicht unbedingt daran, dass die große Korruption ihre Wurzeln in der kleinen Alltagskorruption hat. Wir, die wir geben, sind genauso Teil des Systems, wie die, die nehmen. Deshalb müsste die große Parole jetzt lauten:'Gib kein Schmiergeld mehr!'"

Die Politologin Alina Mungiu-Pippidi, Rumäniens bekannteste Antikorruptionsexpertin, widerspricht. "Es gibt keine große und kleine Korruption, alles ist gleichermaßen Teil eines Systems, in dem man nur durch Bestechung etwas erreicht. Oder eben abhauen oder sterben kann."

Alina Mungiu-Pippidi fordert deshalb seit längerem grundlegende Strukturreformen, nur so könne die Korruption und die Missstände bekämpft werden - etwa durch verpflichtende Transparenzmechanismen, eine radikale Depolitisierung der Staatsverwaltung, eine Eindämmung des Gesetzes- und Verordnungsflut und eine Verschlankung von Behörden.

In jedem Fall, da stimmen alle rumänischen Beobachter überein, wird es noch viele Jahre dauern, bis Rumänien den Wandel schafft, den die Demonstranten auf den Straßen des Landes in diesen Tagen fordern.

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