Kobane

Syrien-Offensive der Türkei: Der tolerierte Völkerrechtsbruch

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Nimmt Präsident Recep Erdoğan den Anschlag auf eine Istanbuler Einkaufsmeile als Vorwand, um Kurdengebiete in Syrien anzugreifen? Zumindest scheint er wenig Interesse daran zu haben, die eigentlichen Attentäter aufzudecken. Über (neue) blinde Flecken in der Geopolitik.

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Nimmt Präsident Recep Erdoğan den Anschlag auf eine Istanbuler Einkaufsmeile als Vorwand, um Kurdengebiete in Syrien anzugreifen? Zumindest scheint er wenig Interesse daran zu haben, die eigentlichen Attentäter aufzudecken. Über (neue) blinde Flecken in der Geopolitik.

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Seit Wochen bombardiert die türkische Armee Stellungen kurdischer Milizen in Nordostsyrien. Nicht nur militärische Ziele haben die Türken im Visier. Wenn man den Pressemeldungen der kurdischen Autonomieverwaltung glauben darf, dann werden auch zivile Ziele wie ganze Dörfer, Stadtteile, Ölförderanlagen, Getreidesilos, Schulen und Tankstellen angegriffen. Das auch mit deutschen Spenden wiederaufgebaute Covid-Krankenhaus in der Stadt Kobaneˆ sowie ein ländliches Gesundheitszentrum sollen laut der Städtefreundschaft Frankfurt-Kobaneˆ vollständig zerstört worden sein. Bei Drohnenangriffen auf die Wachstationen des Gefangenenlagers AlHol wurden neun kurdische Bewacher getötet.

Mehrere IS-Kämpfer und deren Familien sollen darauf entkommen, aber wenig später wieder eingefangen worden sein. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Innenminister Süleyman Soylu rechtfertigen den Angriff auf die Kurdengebiete im Nachbarland mit dem Bombenattentat in der İstiklal-Straße von Istanbul, bei dem am 8. November sechs Menschen getötet wurden. In Rekordzeit hatten Geheimdienst und Polizei nicht nur die mutmaßliche Täterin festgenommen, sondern eine Befehlskette bis in die nordsyrische Stadt Kobaneˆ geortet. Die Verdächtige Ahlam al-Bashir habe in Kontakt zur Kurdenmiliz YPG gestanden. Und für die Türkei besteht kein Unterschied zwischen der syrischen YPG und der in der Türkei aktiven Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit Jahrzehnten für einen kurdischen Staat kämpft und auch in vielen europäischen Staaten als terroristische Organisation gilt.

Unausgesprochenes Stillhalteabkommen

Die in der Türkei verhängte Informationssperre zwang alle Medien, die staatliche Version unhinterfragt zu übernehmen. Dass die PKK jede Verantwortung für den Anschlag umgehend zurückwies und die Urheberschaft eher bei der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vermutete, führte nicht zu Untersuchungen in diese Richtung. Schließlich scheint Erdoğan seit Monaten auf einen Vorwand gewartet zu haben, um lange angekündigte Angriffe auf Kurdengebiete in Syrien zu rechtfertigen. Für Ruksen Mohamad, die Sprecherin der kurdischen Frauenmiliz YPJ, ist die Sache durchschaubar: „Es ist ja ganz klar, wer hinter dem Attentat in Istanbul steht. Das war der IS gemeinsam mit der türkischen Regierung. Die haben das organisiert, um einen Grund zu finden, Rojava anzugreifen.“

Rojava ist der Name, unter dem das kurdische Autonomiegebiet Nordostsyrien eine Zeitlang bekannt war. In einem Telefongespräch aus der kurdischen Hauptstadt Qamischli versicherte Mohamad auch, Beweise für ihre Behauptung zu haben. Zumindest starke Indizien. Denn einer der Brüder der Attentäterin sei 2016 im Kampf gegen die YPG gefallen, als der IS die Stadt Manbidsch angegriffen habe. Ein zweiter Bruder sei im Jahr 2017 im Kampf um die IS-Hochburg Raqqa gefallen. Beide hätten in den Reihen des IS gekämpft. Ein weiterer Bruder befehlige eine protürkische Miliz im kurdischen Kanton Afrin in Syrien, der seit 2018 von der Türkei besetzt ist. „Beweisen können wir diese Informationen noch nicht“, gibt Mohamad zu.

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