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Szenenwechsel in Belgien

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Auch die optimistischesten Beurteiler im Lager der bisherigen Majorität haben sich über das wesentliche Ergebnis der Parlamentswahlen vom 11. April keine Illusion gemacht. Der PSC Christlichsoziale Partei hatte beim vorigen Urnengang nur dank außerordentlichen Umständen die Mehrheit der Sitze in beiden Häusern der Volksvertretung erobert doch nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Viele Anhänger König Leopolds III., besonders aus den Reihen der Liberalen, sprachen sich damals für die einzige Gruppe aus, die für eine Rückkehr des Monarchen geschlossen eingestanden war. Nun, da die Königsfrage erledigt ist, entscheiden die Wähler wieder einzig gemäß ihrer Weltanschauung und ihren wirtschaftlichen Interessen. Da war es geradezu selbstverständlich, daß die seit 1950 allein an der Macht befindliche Regierung Van Houte die Mehrheit im Parlament einbüßte. Deshalb von einer vernichtenden Niederlage, von einem schwarzen Tag des PSC zu reden, wie das in den Reihen der Sieger und ihrer auswärtigen Freunde geschah, dünkt uns zum mindesten stark übertrieben. Die Christlichsozialen zählten in der Repräsentantenkammer von 1945, der letzten, die nicht unter dem dominierenden Einfluß der Königsfrage beharrte, 92 Mandate gegen 17 der Liberalen, 69 der Sozialisten und 23 der Kommunisten. In den beiden Volksbefragungen von 1949 und 1950 stieg der PSC aus den oben angeführten Ursachen auf 105 bzw. auf 108 von insgesamt 212 Sitzen, die Liberalen auf 29 bzw 20. Innerhalb der Linken verschob sich die Situation ständig zugunsten der Sozialisten PSB und zum Nachteil der Kommunisten, doch die Gesamtzahl der marxistischen Abgeordneten blieb konstant; es sei denn, daß sie auf Kosten der Liberalen kleine Gewinne erzielten. 1949 gab es 66 Sozialisten und 12 Kommunisten, 1950 77 Sozialisten und 7 Kommunisten. Nun sind es 87 Sozialisten und 4 Kommunisten.

Die Stabilität wird noch klarer, wenn wir den Prozentsatz der für die einzelnen Parteien eingeworfenen Stimmzettel vergleichen. 1950, im günstigsten Moment, bekamen die Christlichsozialen 47,68 Prozent der Voten, diesmal erhielten PSC und zwei von ihm abgesplitterte kleine christliche Fraktionen 44,16 Prozent der Stimmen. Die Liberalen stiegen von 11,25 auf 12,14 Prozent, die Sozialisten von 34,51 auf 37,34 Prozent, die beiden gemeinsamen Listen von 1,77 auf 2,09 Prozent. Die Kommunisten sanken von 4,74 auf 3,’56 Prozent. Von einem Erdrutsch, von einer Katastrophe des PSC sind wir also weit entfernt. Diese Partei ist hach wie vor die stärkste des Landes. Dennoch muß sie vom Staatsruder abtreten. Denn die bisherige Opposition, die seit geraumer Frist auf diesen Moment wartete, will nun, im Zeichen gemeinsamer antiklerikaler Gefühle, an die Macht, und sie kann sich dabei auf das unerbittliche demokratische Gesetz der Zahl stützen. 112 Repräsentanten der Liberalen und der Sozialisten bilden eine genügende Mehrheit, um ein verabredetes Programm durchzuführen und um die Opposition des PSC zum wirkungslosen Widerspruch zu verurteilen. Die Frage ist nur, ob die Koalition der zwei antiklerikalen Gruppen während der kommenden vier Jahre der normalen Lebensdauer dieses Parlaments standfest bleiben wird.

In Belgien sind es seit langem drei wesentliche Angelegenheiten, bei deren Behandlung sich die Geister scheiden: die Weltanschauung — katholisch oder freidenkend — das Nationalitätenproblem — wallonisch oder flämisch — und die Wirtschaft — gebunden oder frei, kapitalistisch-privat oder sozialistisch-planmäßig, Eine vierte Frage, die außenpolitische Haltung, hat zwar seit einigen Jahren an Bedeutung zugenommen, doch spielt sie neben den vorgenannten eine geringere Rolle. Denn die große Mehrheit aller drei nichtkommunistischen Parteien, davon die Liberalen so gut wie geschlossen, sind für einen engen Anschluß ans atlantische System. Darüber sind Van Zeeland, der bisherige christlichzosiale Außenminister, und Spaak, der nunmehr wieder an dem ihm wohlgewohnten Platz zurückkehrende sozialistische Leiter der belgischen Diplomatie, eines Sinnes. Die Neutralsten finden sich zwar sowohl bei den Christlichsozialen — der hochangesehene Stuye — als auch bei den Sozialisten — der nicht minder geachtete Rollin —, doch die Europaverträge sind von den beiden Kammern mit Dreiviertelmehrheit angenommen worden und außerhalb der eigentlichen politischen Kreise, im Lande, interessiert sich die Bevölkerung für Weltpolitik nur insoferne und indirekt, als sie die militärischen Lasten jeweils auf andere abwälzen möchte und als sie die Herabsetzung der Dienstpflicht auf 18 Monate fordert.

Dieser Punkt hat freilich in der Wahlkampagne kräftig gegen die PSC gewirkt, deren Minister die Verlängerung der Wehrpflicht durchgeführt hatten. Die nationale Frage trat diesmal zurück. Höchstens, daß die Begnadigung flämischer Kollaboranten ebenfalls gegen Van Houte ausgebeutet wurde, obzwar der dafür verantwortliche Justizminister Phollien, übrigens ein Gegner der Europaverträge, seinerzeit ausgebootet worden war.

Im Vordergrund der Auseinandersetzungen standen dagegen das Weltanschauliche — konkret, die Subventionen für die nichtstaatlichen katholischen Schulen und das mit dem Heiligen Stuhl geschlossene Abkommen über die Lage der Kirche in der Kongokolonie — und Wirtschaftlich-Soziales. Die Regierung Van Houte hat sowohl die Staatsfinanzen als auch sämtliche Sektoren des Wirtschaftslebens vortrefflich verwaltet. Ein gewiegter Bankmann wie Albert-Edouard Janssen hat den belgischen Franken vor allen Anschlägen gegen dessen Stabilität bewahrt. Die Industrie ist, ungeachtet wiederholter Krisenansätze, in Flor geblieben, der Handel blüht, und wenn man, wie stets, über Teuerung klagt, so können die Beschwerden der Angestellten und Arbeiter, die zusammen mit den Schweizer und schwedischen die höchsten Reallöhne Europas beziehen, ihren Kollegen im Herzen, im Süden und im Osten unseres Erdteiles hur ein neiderfülltes Lächeln und ein Aufseufzen ablocken. Waren doch Ende 1952 der Durchschnittstageslohn eines -Industriearbeiters 194 Francs — rund 16 DM oder Schweizer Franken, 100 österreichische Schilling —, das Durchschnittsmonatseinkommen eines Angestellten 9400 Francs — 800 DM oder Schweizer Franken, 4800 Schilling! Die Belgier sind freilich ihren hohen Standing gewohnt, und sie verübeln es jeder Regierung, wenn diese die peinlichen Aufgaben ihres Amtes erfüllt, Militärdienst zu fordern und Steuern einzuheben. Und darum finden wir den letzten Grund dafür, daß Van Houte abgehen und daß eine neue Equipe ans Ruder kommen mußte darin, daß sich jede Parteienkombination, bei der eine der beiden rivalisierenden großen Gruppen, PSC oder PSB, die Last der Verantwortung trägt, während die andere Opgosition macht, nach einiger Zeit verbraucht. Die eben gebildete Koalition wird diesem Gesetz ebensowenig entrinnen wie das christlichsoziale Einheitskabinett. Nur eine Gemeinschaft des PSC und des PSB hätte Aussicht auf unbefristete Zeit zu regieren, solange beide Partner nicht untereinander in Streit geraten ...

Van Acker hat also’ eine Regierung mit antiklerikalem Vorzeichen gebildet. Neun Sozialisten, sieben Liberale gehören ihr an. Doch das zahlenmäßige Uebergewicht der einen wird durch die Zuweisung der wichtigsten Portefeuilles an die andern ausgeglichen. 87 Sozialisten verwalten zwar das Aeußere Spaak, das Innere Vermeylen und die Landesverteidigung Spinoy samt dem Unterrichtsportefeuille, das ein militanter Freidenker erhielt. Den 25 Liberalen gehören indessen alle Wirtschaftsressorts, Finanzen — dem Parteiführer Libaert —, Wirtschaft, Kolonien, Ackerbau, öffentliche Arbeiten, dazu die Justiz, das Ministerium für Mittelstandsfragen. Ein einziges bedeutsames Wirtschaftsressort hat einen sozialistischen Inhaber, den führenden Publizisten der Partei und Herausgeber des „Peuple“ Larock.

Schon die Zusammensetzung des Kabinetts deutet an, daß man von ihm keinen kühnen Umschwung auf sozialem und ökonomischem Gebiet zu erwarten hat, jedoch eine Bekundung antiklerikaler Gelüste. Vor allem dürften die Zuwendungen an katholische Schulen gestrichen oder verringert werden; das Kongoabkommen mit der Kurie ist fraglich geworden, obzwar die Liberalen in der vorigen Session durch Stimmenthaltung den Sozialisten die alleinige Verwerfung dieses Vertrags zuschoben. Wenn dennoch, nach dem ersten Eifer, die Dinge kaum bis zu einem Kultur-

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