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Tausend Jahre

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Es war aller Wahrscheinlichkeit nach am 14. April — Karsamstag — im Jahr des Herrn 966. Ein Priesiter der römisch-katholischen Kirche, vielleicht ein Bischof, machte das Kreuzzeichen über dem Haupt des Fürsten Mieszko I. und sprach: „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Seit diesem Augenblick sind tausend Jahre vergangen, dreißig Menschengeschlechter; damals haben wir Polen begonnen, als Volk zu existieren. Von diesem Moment an rechnen wir die Geschichte des Christentums auf unserem Boden, von diesem Augenblick an zählen auch die in den historischen Quellen verzeichneten Geschehnisse unseres polnischen Volkes und Staates. Dieser Zusammenfall der Geburt unseres Volkes und Staates mit dem Christentum ist kein Zufall. Die Aufnahme unseres Landes in den Strahlungsbereich des Christentums war gleichzeitig nicht nur eine religiöse, sondern eine gesellschaftliche und politische, die den polnischen Staat in die damalige europäische Gemeinschaft einfügte, eine Kulturgemeinschaft, die vom Mittelmeerraum ihren Ursprung gewonnen "hatte.

Diese Zeitrechnung ist irgendwie konventionell. Es ist einfach das älteste in unserer Geschichte bekannte Datum, wenn man über die Erwähnung durch Widukind, im Jahre 963, hinwegsieht. Frühere Daten haben die Chronisten nicht eingetragen oder diese Eintragungen sind nicht in unsere Hände gekommen. Historische Ereignisse wie die Entstehung eines Staatengebildes, die Ausbreitung einer Religion oder Umformung einer Kultur dauern im allgemeinen längere Zeit, und es ist nicht immer leicht, die Zeit genau festzulegen.

Aus grauer Zeit

Ohne Zweifel haben sich die Umrisse unseres polnischen Staates lange vor 966 zu formen begonnen. Wahrscheinlich hat auch schon lange vorher eine Berührung zwischen Bewohnern unseres Landes und dem Christentum stattgefunden. Es kann sein, daß hierher Missionäre der römischen Obödienz vorgedrungen waren, ganz bestimmt aber erscheinen hier Abgesandte der zum Bistum Byzanz gehörigen slawischen Kirche. Archäologische Forschungen können vielleicht noch manches Licht in diese Angelegenheit bringen. Anderseits hat die Annahme der Taufe durch den Fürsten, seinen Hof und sein Gefolge nicht die automatische Christianisierung des ganzen Landes zur Folge gehabt. Der Christianisierungsprozeß muß längere Zeit gedauert haben. Zweifelsohne stieß er anfangs auf Widerstand und rief in weiterem Verlauf Reaktionen hervor; die Geschichte lehrt uns dies. Wir wissen es nicht und werden es nie wissen, welche Motive Mieszko I. leiteten, als er sich entschloß, die Taufe anzunehmen. Welche Rolle spielte dabei die Überzeugung vom wahren Glauben und wieweit spielten politische Überlegungen mit? Sicherlich haben beide Faktoren zu seinem Entschluß beigetragen.

All das sind wichtige Probleme für den Historiker, Überlegungen für den Freund der polnischen Geschichte. Für uns selbst sind sie jedoch im Augenblick von zweitran-

giger Natur. Wie immer die Dinge damals, vor tausend Jahren, lagen, wir haben das volle Recht, jetzt, im Jahre 1966, das tausendjährige Bestehen des Christentums in Polen zu feiern, wie auch den tausendjährigen, durch die Geschichte bewiesenen Bestand als Volk und Staat. Wir haben das Recht, diese Tausendjahrfeier zu halten, die Bilanz und Schlüsse für die Zukunft daraus zu ziehen. Obwohl sich diese beiden Jubiläen derart decken, daß sie un-

trennbar erscheinen, obwohl sie zwei historische Abläufe, die untrennbar miteinander verknüpft sind, betreffen, so geht es doch um zwei verschiedene geschichtliche Abläufe. Daher wollen wir uns hier mit der tausendjährigen Geschichte des Christentums in Polen befassen, um so mehr, da das Datum der Tausen- jahrfeier des Staates etwas davon abweicht und wir noch Gelegenheit haben werden, uns diesem Jubiläum zuzuwenden.

Die anderen Kirchen

Das christliche Millennium in Polen bedeutet, daß schon am Beginn des Jahrtausends das Christentum tiefe Wurzeln in unserem Land schlug. Natürlich änderte sich seine Gestalt im Laufe der Geschichte. Zwei Spaltungen haben in der Geschichte des Christentums zwei große Gemeinschaften von der römischen Kirche abgetrennt, die Ostkirche und die evangelischen Kirchen der Nachreformation. Darüber hinaus brachte es die historische Verschiebung der Grenzen Polens, vor allem nach dem Osten, mit sich, daß der Organismus des polnischen Staates mitunter bedeutende völkische Minderheiten aufnahm, vielfach auch solche anderen, wenn auch in der Mehrzahl christlichen Glaubens, obwohl auch Juden und Tartaren darunter waren.

Nichtsdestoweniger hatten wir in unserer Geschichte, vor allem im Mittelalter und später vor der Reformation, größere Zeitabschnitte, in denen alle Polen Katholiken waren. Auch später, bis zum heutigen Tage, ist die Mehrheit der Polen katholisch. Das bedeutet, daß die große Mehrheit der Polen die heilige Taufe in der katholischen Kirche empfangen hat, sich zur katholischen Religion bekannte und zugehörig gefühlt hat, zum Christentum, das, von Rom oder Byzanz ausgehend, die ganze damalige zivilisierte Welt umfaßte. (Wir klammern hier bewußt die Welt des Islams aus, mit der die unsere im Konflikt stand, wie auch die großen asiatischen Kulturen, mit denen sie praktisch keinen Kontakt hatte.)

Im Leben des Volkes und in seiner Kultur, im Leben des Staates und seinen Institutionen spielt die Kirche eine bedeutende Rolle. So verhielt es sich im ganzen mittelalterlichen Europa, in dem das Christentum das universelle Fundament bildete und die Kirche die Erzieherin der Völker war. Das Christentum erfüllt diese Aufgaben sowohl aus seinem eige-

nen inneren Reichtum als auch durch jene übernommenen Werte, die sie in Stürmen bewahrte und an die jungen Kulturen und sich neu bildenden Staatengebilde weitergab. Solche Werte waren das römische Recht oder das künstlerische und philosophische Erbe der Antike. Wir wissen, daß es Zeitabschnitte gab, in denen sich die intellektuelle Elite aus der Geistlichkeit zusammensetzte. Im Polen des Mittelalters haben die Klöster den Glauben verbreitet und Schulen gegründet. Die ältesten Zeugnisse unserer Volkssprache und unserer Literatur haben religiösen Charakter, denselben Charakter tragen die ältesten Schätze unserer Architektur und Malerei. Auch im bürgerlichen Leben der mittelalterlichen Gesellschaft gab es eine enge Abhängigkeit von Staat und Kirche, die übrigens in Übereinstimmung mit der Lehre der damals im Staat und Rechtswesen Mächtigen stand.

Ein neues Einflußgebiet

Polnische Bischöfe saßen im Sejm (Parlament), waren Kanzler und Ratgeber der Könige, als königliche Legaten reisten sie in diplomatischen Missionen, in Zeiten des Interregnums erfüllten sie die Funktionen eines Interrex.

Der anderen Anteil

Die weitere geschichtliche Entwicklung, die im Rahmen dieses Artikels schwer zu analysieren ist, änderte in gewissem Sinn die Situation. Es verringerte sich der Einfluß der Kirche im Bereich der Kultur und des Staates, diese Gebiete erreichten immer größere Autonomie, es bildeten sich weltliche intellektuelle und staatliche Führungsgruppen. Die Kirche übte — genau gesagt — einen mehr mittelbaren und nicht mehr unmittelbaren Einfluß aus. Der mittelbare Einfluß hatte übrigens schon immer existiert, allein schon durch die Tatsache, daß sich auch die Laien, Kulturschaffenden oder Organisatoren des bürgerlichen Lebens in überwiegender Mehrheit zur katholischen Kirche zugehörig fühlten und ihren Glauben bekannten. Übrigens durchlebte die Kirche auch in Polen — und nicht nur in Polen — Zeiten der Blüte und des Verfalls. Der mittelbare Einfluß war auch später sehr groß. Wir verweisen nur auf die Bedeutung der Religion für die Volkserziehung und für die Erhaltung des Volksbewußtseins in den Zeiten der Teilungen, was auch zu Kirchenverfolgung von seifen der Eroberer, vor allem der Preußen und zaristischen Russen, führte.

Der Anteil des Christentums an der polnischen Kultur und seine organische Verwachsenheit mit ihr sind groß. Das Christentum formte das Brauchtum und die Meinung des Volkes. Wir finden tausende Spuren in der Völkerkunde. Unsere Literatur, unsere Gedichte und Dramen sind durchtränkt mit religiösen Elementen, mit christlicher Lehre unö Moral. Auf der christlichen Metaphysik ruht im großen Ausmaß das philosophische Gedankengut der polnischen Denker.

Fügen wir jedoch gerechtigkeitshalber gleich hinzu: Wie hoch wir auch den Beitrag der Kirche und besonders der Katholiken zum Leben unseres Volkes und Staates einschätzen mögen, so ist es ein Beitrag, an dem das ganze Volk seinen Anteil hat. Darüber hinaus haben das Volksgut natürlich nicht nur die

Katholiken gebildet. Einige protestantische Splittergruppen, die sich in der Nachreformationszeit recht üppig in Polen entwickelten, steuerten wertvolle Beiträge zur polnischen Kultur bei. In anderen Zeiten, vor allem in der jüngeren Zeit, so zirka mit Beginn des 18. Jahrhunderts, trugen immer mehr Menschen zur Entwicklung der Volkskultur und des öffentlichen Lebens bei, denen man schwerlich den Stempel des religiösen Bekenners aufdrücken könnte.

Licht und Schatten

Im übrigen läßt sich der Anteil der Kirche, genauer gesagt, der Katholiken, am Leben des Volkes, in seiner Kultur und seinem öffentlichen Leben nicht in Schwarzweißmalerei aufzeigen. Die Bilanz des Anteils der Katholiken an der polnischen Kultur ist, wenn wir die positiven Fakten berücksichtigen, sicherlich imponierend. Das aber wäre keine vollständige Bilanz. Man kann nicht leugnen, daß in gewissen Zeiträumen unserer Geschichte (zum Beispiel in der „sächsischen Zeit“) der Katholizismus die Gestaltung des sozialen Lebens nicht eben förderte. Unter den Staatsmännern und Politikern, die als Katholiken Anteil am öffentlichen Leben nahmen — sie waren Fürsten der Kirche, Geistliche oder auch, wie man heute sagt, „engagierte“ Katholiken —, gab es großartige Menschen, große Persönlichkeiten, Leuchten unserer Geschichte, aber wir finden unter ihnen auch andere. Warum? Manchmal deshalb, weil diese Staatsmänner oder Politiker nicht die richtigen Menschen auf dem richtigen Platz waren, sondern Menschen ohne Weisheit und Einsicht. Manchmal deshalb, weil sie die wahren Volksinteressen mißverstanden oder weil sie sich in Ausübung von Staatsfunktionen ausschließlich von ebenfalls falsch verstandenen Interessen der Kirche leiten ließen. Wir in Polen nehmen zumindest nicht an, daß das echte, richtig verstandene Interesse der Kirche jemals dem echten, richtig verstandenen Interesse des Volkes entgegenstehen kann. Diese Interessen liegen auf verschiedenen Ebenen, was an sich schon Konflikte ausschließen sollte. Die Geschichte aber kennt solche Konflikte. Das ganze Mittelalter hindurch haben wir es mit Spannungen zwischen Papsttum und Kaisertum zu tun, und der Streit zwischen geistlicher und weltlicher Macht ist älter als das Christentum, wir finden ihn bereits bei den Pharaonen. Es ist daher nicht befremdend, wenn sich auch im Ablauf unserer Geschichte dieser Konflikt einstellte.

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