
Theater und Tyrannis: Über die dunkle Vor-Geschichte von Europas Demokratie
Wie das Schauspiel gehören Kolonisierung, Rechtlosigkeit und Binnenkriege zur Geschichte Griechenlands – und dieses Kontinents. Reflexionen über die Fragilität der Demokratie.
Wie das Schauspiel gehören Kolonisierung, Rechtlosigkeit und Binnenkriege zur Geschichte Griechenlands – und dieses Kontinents. Reflexionen über die Fragilität der Demokratie.
Von den obersten Rängen des antiken Theaters im sizilianischen Syrakus sieht man hinaus in die Bläue des Ägäischen Meeres. Irgendwo hinter dem Horizont liegen Kleinasien, Afrika, der Peloponnes. Vom Peloponnes aus kamen die ersten griechischen Siedler im achten Jahrhundert vor Christus an die Ostküste der Insel. Sizilien ist ein Vorposten Europas – nicht nur geografisch, sondern auch kulturell. Zum Beispiel dieses zweieinhalbtausend Jahre alte Theater: Es fasste bis zu 15.000 Menschen, rund neunmal mehr, als die Staatsoper in Wien Plätze hat. Die Werke der großen griechischen Dichter wurden hier gespielt: Aischylos, Sophokles, Euripides. In diesem Theater verfolgte Aischylos in Person die Aufführung seiner „Perser“. Seit einiger Zeit finden hier sommers wieder Aufführungen der großen griechischen Dichter statt.
Demokratie ohne Frauen, Sklaven, Fremde
Ich steige über die abfallenden Reihen der Steinblöcke vorsichtig hinunter, dorthin, wo in griechischen Zeiten die Bühne war. Aischylos war auf Einladung des Tyrannen von Syrakus, Hieron I., im Jahr 475 vor Christus nach Sizilien gereist; er hatte auch ein – verlorenes – Theaterstück für ihn geschrieben, die „Ätnerinnen“, anlässlich der Ansiedelung griechischer Soldaten. Mir wird langsam klar, dass Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur – wie man sagt –, keineswegs aus lauter Demokratien bestanden hat, sondern dass der Kampf um die Demokratie immer wieder geführt werden musste. Demokratisch war Athen, die „Mutter aller Demokratien“, etwa hundertfünfzig Jahre lang – von den Perserkriegen zu Beginn des fünften Jahrhunderts bis zur Niederlage Athens gegen die Mazedonier 322 vor Christus, dem Ende der Selbstständigkeit Athens. Die athenische Demokratie, Vorbild heutiger Demokratiebestrebungen, schloss zudem große Teile der Bevölkerung – Frauen, Sklaven, Fremde – aus.
Die Griechen waren Zugewanderte, Teil der indoeuropäischen Wanderungsbewegung, die vermutlich aus den Gegenden um das Schwarze Meer und das Asowsche Meer kam, dort, wo heute die von Russland besetzten Gebiete der Ukraine liegen und wo die Front verläuft. Das lässt sich einigermaßen anhand von Sprachgeschichte und Materialgeschichte belegen. Im achten Jahrhundert hatte sich auf dem griechischen Festland eine agrargesellschaftliche Ordnung herausgebildet: Macht hatte, wer Land besaß – und dieser Besitz war höchst ungleich verteilt. Mit zunehmender Bevölkerung wurde das ein Ernährungsproblem, und die Lösung hieß: Auswanderung, Gründung von Kolonien.
Griechische Kolonisten setzten sich in Libyen fest, auf den ägäischen Inseln und auch in Sizilien; zunächst in Naxos, dann in Ortygia, der Halbinsel vor Syrakus, andere Siedler gründeten das benachbarte Gela, von wo aus eine ganze Reihe weiterer Gründungen von griechischen Ansiedlungen erfolgte. Nicht überall waren die Siedler willkommen: In Libyen stießen sie auf heftigen Widerstand, und auch Sizilien war natürlich keine menschenleere Robinson-Insel, sondern seit dem Paläolithikum bewohnt. Die einheimischen Sikeler wurden ins Landesinnere zurückgedrängt, es gab Auseinandersetzungen und einen Aufstand gegen die Griechen. Doch wurden auch Lebensweisen und Gebräuche wechselseitig übernommen – und Sikeler kämpften als Söldner für die verschiedenen Tyrannen der sizilischen Stadtstaaten.
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