Busfriedhof - © Fotos: Alexandre Sladkevich

Tundra, Gift und Nickel

19451960198020002020

Früher war die Region südlich der Karasee ein dünn besiedeltes Tundragebiet. Dann wurde die Stadt Norilsk aus dem Boden gestampft. Sie ist eine der schmutzigsten Städte der Welt. Eine Reportage.

19451960198020002020

Früher war die Region südlich der Karasee ein dünn besiedeltes Tundragebiet. Dann wurde die Stadt Norilsk aus dem Boden gestampft. Sie ist eine der schmutzigsten Städte der Welt. Eine Reportage.

Werbung
Werbung
Werbung

Jesenija, Alewtina, Artur und Gennadij sind Freunde mit ähnlichen Interessen und verschiedenen Lebensansichten. Sie arbeiten, machen Ausflüge und leben in einer der schmutzigsten Städte der Welt. In Norilsk auf der arktischen Halbinsel Taimyr, in einer der kältesten Ansiedelungen der Erde. Ausländern ist das Betreten der Stadt nur mit Sondererlaubnis gestattet.

Das Flugzeug landet auf dem Flughafen Alykel. Mit Sammeltaxis fährt man nach Norilsk. Links und rechts der Straße breitet sich die Tundra aus. Und plötzlich eine „Oase“, die Geistersiedlung Alykel, mit verwahrlosten, verrußten, neunstöckigen Plattenbauten und kleineren Häusern in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Mit jedem weiteren Kilometer rückt die Zivilisation näher und bald lässt das Taxi die Häuser von Kajerkan hinter sich. Kajerkan, eine ehemals selbstständige Stadt, wurde, so wie Talnach, zur Peripherie von Norilsk.

Die düsteren Plattenbauten in Kajerkan sehen nicht viel besser aus als die in Alykel, sind jedoch zum Teil bewohnt. Das Taxi passiert das Flüsschen Daldykan, ein rostfarbenes Rinnsal, dessen Ufer kupferrot sind und nähert sich dem Kombinat Nadjeschda. Nadjeschda, was auf Russisch Hoffnung bedeutet, ist das Nadjeschdinskij metallurgische Werk, der Stolz der MMC Norilsk Nickel. Von der Hoffnung geht ein ätzender Geruch aus, weil Norilsk Nickel, einer der größten Rohstofflieferanten der Welt, auch gleichzeitig einer der größten Umweltverschmutzer der Erde ist. Obwohl die Fens­ter des klapprigen Taxis geschlossen sind, fängt es in der Nase zu brennen an, und es wird einem schwindelig. Bald erreicht man Norilsk, das mitten in der Tundra erbaut wurde und sich in eine Smogwolke hüllt. Der Taxifahrer fährt alle Passagiere bis zur Haustür. Viele Höfe und Häuser bieten einen erbärmlichen Anblick.

Manche Gebäude stehen leer, ohne Glasscheiben, verfallen. Andere wurden nie fertiggestellt. Vieles wirkt angebrannt, trägt eine schwarze Schicht oder ist schwarz befleckt. Die Farbe bröckelt ab. An manchen bewohnten Häusern sieht man aufgemalte Warnungen: „VORSICHT. Fassade ist einsturzgefährdet.“ Wie zum Beweis liegen auf dem Bürgersteig heruntergefallene Steine. Die Häuser stehen eng beisammen, damit Passanten hinter ihnen Schutz vor Schneestürmen finden können.

„Endlich zuhause!“, erklingt erfreut eine Frauenstimme. „Haben Sie etwa den Smog und den Geruch von faulen Eiern hier vermisst?“, fragt verwundert der Taxifahrer. Er erhält keine Antwort. Der Schwefelwasserstoff, der hier reichlich in der Luft liegt, spricht ohnehin für sich.

Irgendwann biegt das Auto ab und erreicht den Anfang der Hauptstraße der Stadt, Leninskij Prospekt. Schon von hier sieht man die Verwaltung von Norilsk Nickel. Der Prospekt wirkt pompös: Von Leningrader Architekten projektiert, prunkt er im stalinistischen Zuckerbäckerstil. Die Bauleistungen unter Permafrostbedingungen gelten als beispielhaft. Die auf Pfählen errichteten Häuser sind bunt, Farbe gegen das depressive Grau der langen Polarnacht. Im Gegensatz dazu wirken die übrigen Stadtbezirke umso finsterer.

Gesundheitsgefährdung

Hier im Herzen der Stadt lebt Jesenija Iwanowa (34). Ihre kleine Wohnung ist unerwartet modern eingerichtet, in Rot gehalten und mit verschiedenen englischen Wahrzeichen geschmückt. Auf den Tapeten ist ein Londoner Doppeldeckerbus und das Symbol Underground abgebildet. „Ich liebe meine Heimat, denn wie kann man seine Heimat nicht lieben?“, lacht Jesenija und fährt fort: „Dennoch wollte ich nach sechs Jahren in Krasnojarsk nicht zurück. Doch das Schicksal wollte, dass ich heimkehrte. Ich weiß, dass ich in einer verschmutzten Stadt lebe und dass sich das auf die Gesundheit niederschlägt. Mit jedem Jahr spüre ich das immer stärker. Ich muss weg, aber ich habe keine Möglichkeit. Ich will nicht zur Miete wohnen, und meine Wohnung hier zu verkaufen, lohnt sich nicht. Die Norilsker Wohnungen sind viel billiger als im Rest des Landes, aber sonst ist alles viel teurer.“ Norilsk ist abgelegen, und die Lebenshaltungskosten sind hoch, weil alles von weit her angeliefert werden muss. Jesenija streichelt ihren Kater und sagt: „An trockenen Tagen fliegt der Staub hoch auf und nach einem kurzen Spaziergang sind die Nase, die Ohren und die Lungen voll damit. Meine Verwandten sind alle fort, doch alle meine Freunde sind hier.“

Es ist Sommer, die Sonne schaut gelegentlich hinter der Mischung aus Wolken und Smog hervor, dann versteckt sie sich plötzlich wieder. Es kommen Regen und kalter Wind auf. Das ist hier so üblich. Es schreckt Jesenija und ihre Freunde nicht ab, am Samstag an einer Geburtstagsfeier in der Natur teilzunehmen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung