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Übungen auf dem Seil

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Italien wählt am 22. November seine Gemeinde- und Provinzräte. Als einzige Partei versucht die kommunistische, beharrlich und erfolglos, die Wahlpolemik auf kommunale Probleme zurückzuführen. Die der anderen bewegt sich auf den Höhen der Weltpolitik, der Führungswechsel in der Sowjetunion ist

das Lieblingsthema der bürgerlichen Kampagne geworden. Aber gerade auf diesen Boden will die KP Italiens nicht folgen. Sie ist ungewöhnlich unduldsam geworden und zeigt, zum erstenmal, deutlich Nervosität. Warum bloß? Parteisekretär Luigi Longo erklärt sich sicher, daß es den Gegnern nicht gelingen werde, aus

der augenblicklichen besonderen Situation der KP Stimmengewinn zu schlagen. Auf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit ist seine Zuversicht durchaus berechtigt. Die kommunistische Wählerschaft spricht wenig auf internationale Ereignisse an. Nicht einmal die Unterdrückung der ungarischen Volkserhebung hat die Wahlresultate wesentlich beeinflussen können.

Bangen um die Glaubwürdigkeit

Trotzdem sind die kommunistischen Parteiführer besorgt. Die Italiener wählen die KP nicht so sehr aus eigentlich politischen Gründen und schon gar nicht aus ideologischen. Sie wählen sie aus Protest gegen eine unbefriedigende Gegenwart und der Versprechungen wegen, mit denen sie so freigebig ist. Aber die in der Zukunft einlösbaren Wechsel setzen Vertrauen voraus. Die KP-Führung fürchtet um ihre Glaubwürdigkeit bei den Wählern, da sie durch die plötzlich und unerwartet eingetretene „Entčhru- schtschowisierung“ in der Sowjetunion zu halsbrecherischen Übungen auf dem Seil gezwungen wird.

Der Sturz Chruschtschows ist für die italienischen Kommunisten so unerwartet gekommen wie seinerzeit der Bannfluch gegen Tito. Unter vollkommener Mißachtung ihrer besonderen Situation kurz vor den Wahlen. Während sie im Begriffe sind, empfängliche demokratische Politiker, wie den Sozialdemokraten Giuseppe Saragat, davon zu überzeugen, daß „die Entwicklung der politischen Debatte in der sozialistischen Demokratie“ an einem Punkt angelangt ist, wo sie „die demokratische Freiheit entdeckt“ hat, und sie eigentlich bereits reif ist, in die gute Stube der demokratischen Koalition eingelassen zu werden. In diesem Moment zeigen die Vorgänge in Moskau, daß dort immer noch ein Führungswechsel nur im Wege einer Verschwörung, ohne öffentliche Debatte, vor sich gehen kann und es nachher den Aktivisten der KPdSU überlassen wird, die vollzogenen

Tatsachen der Bevölkerung zu erklären.

Die Reise nach Moskau

Eine Delegation wird nach Moskau geschickt, um, wie das Parteiorgan „Unitä“ am 18. Oktober schreibt, den genauen und vollständigen Wortlaut der Debatte, die zpm Rücktritt des Genossen Chruschtschow führte, auf Anweisung der KPdSU schnellstens der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Sie hat den sowjetischen Genossen die Kritiken, Vorbehalte und Besorgnisse der italienischen Kommunisten über die Methode und die Auswirkungen der Absetzung Chruschtschows mitzuteilen. Die Direktionsmitglieder Berlinguer, Bufalini und Sereni kehren am 3. November nach Gesprächen mit Breschnjew,

Suslow, Podgomi und Ponamariow rach Rom zurück. In dem lakoni- ichen Kommunique findet siet lichts mehr von Reserven, es ent- lält nur Ausdrücke der Solidarität Jie Parteidirektion, obwohl telepho- risch von dem unbefriedigender Verlauf der Gespräche ihrer Delega- :ion in Moskau unterrichtet, tagt der 'anzen vergangenen Freitag, um der Bericht zu werten. Die Existen; zon Meinungsverschiedenheiten zwi- chen der italienischen und der so- vjetischen KP klingt noch leise durch n einem zweiten Kommunique iber das, was sich in Moskau ereignet hat, wird sofort entschuldigt ienn es sei „nur im Rahmen des grandiosen, durch die Oktoberrevo- ution eingeleiteten Prozesses zi verstehen“ — als ob diese nicht eir ralbes Jahrhundert zurückläge —,

und die Amtsenthebung Chruschtschows sei unter vollkommene« Respektierung der verfassungsmäßigen Vorschriften erfolgt. Allerdings hat man der Delegation, als sic den Suslow-Bericht einzuseher wünschte, eine höfliche Absage erteilt. Es handle sich um ein Dokument internen Charakters.

Den Aktivisten' der KPI bleib jetzt überlassen, der Wählerschaft zt erklären, warum der Führungsstaa- des internationalen Kommunismus die Sowjetunion, weiterhin jede: Respektes und der NachahmunĮ würdig ist, obwohl sie nur in der ersten sieben Jahren richtig regier wurde, durch Lenin, und die folgenden vierzig Jahne durch Verbreche: (Rykow, Stalin, Berija), Parteifeind« (Molotow, Malenkow, Bulganin) un« einen „trunksüchtigen Quatschkopf“

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