Kiew Straßensperre - © Foto: APA / AFP / Sergei Supinsky

Ukraine-Experte: „Es kann keinen Sieger geben“

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Kann es mit Putins Russland Verhandlungen, kann es mit Russland Frieden geben? Politikwissenschafter Heinz Gärtner meint, man müsse sich darauf einstellen, nachgeben zu müssen, um etwas zu bekommen. Maximalforderungen - auch des Westens - hätten keine Chance.

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Kann es mit Putins Russland Verhandlungen, kann es mit Russland Frieden geben? Politikwissenschafter Heinz Gärtner meint, man müsse sich darauf einstellen, nachgeben zu müssen, um etwas zu bekommen. Maximalforderungen - auch des Westens - hätten keine Chance.

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Tote Zivilisten, tote Soldaten, zerstörte Städte, ein nicht enden wollender Strom an Vertriebenen und immer noch Millionen Menschen vom Krieg eingeschlossen. Kann man angesichts der Brutalität des russischen Angriffs von Frieden sprechen? Heinz Gärtner meint, ja.

DIE FURCHE: Professor Gärtner, die militärische Lage in der Ukraine ist bestenfalls verworren, die humanitäre Lage jedenfalls fürchterlich, Millionen sind auf der Flucht. Wie ist Ihre Einschätzung?

Heinz Gärtner: Der Krieg muss aufhören, das Töten muss aufhören, es produziert immer mehr zivile Tote und tote Soldaten. Man braucht unbedingt einen unmittelbaren Waffenstillstand, um dann auch eine diplomatische Initiative zu ergreifen. Es geht dabei nicht nur darum, miteinander zu reden, sondern auch konkrete Vorschläge zu unterbreiten.

DIE FURCHE: Wie könnten die Aussehen?

Gärtner: Klar ist, dass es hier keinen wirklichen Sieger geben kann. Ich weiß zwar nicht, wie weit Präsident Putin gehen will, aber die militärischen Optionen sind alle nicht gut. Russland wird zwar vermutlich die Oberhand behalten, aber es droht ein Abnutzungskrieg und eventuell für die Russen auch ein Afghanistankrieg. Aber auch Präsident Selenskyj kann nicht gewinnen, denn dieser Krieg kostet viel zu viele ukrainische Menschenleben. Es könnte auch sein, dass ein blutiger Krieg zur Teilung des Landes führt, wie in Korea 1950-1953. Es gibt wenige Helden, aber viele Unschuldige, die in einem Krieg sterben, der nicht gewonnen werden kann.

DIE FURCHE: Müsste das alles nicht damit beginnen, dass die humanitären Korridore in der Ostukraine funktionieren?

Gärtner: Davon werden erfahrungsgemäß nur wenige Menschen profitieren, aber das ist nicht, was ich unter Waffenstillstand verstehe. Diese Zeit muss genutzt werden, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und das Problem ohne Tabus zu besprechen. Je länger der Krieg dauert, desto härter werden die Bedingungen für die Ukraine, die Russland nennen wird. Denn die russische Armee wird Erfolge erzielen, und damit wird die Verhandlungsbasis für Kiew schlechter.

Es wäre ein großer Fehler Österreichs, jetzt in die NATO einzutreten. Das hieße, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten, und gefährdet uns mehr, als es nutzt

DIE FURCHE: Aber welche Forderungen Moskaus müssten da von ukrainischer Seite akzeptiert werden?

Gärtner: Um zu einer Einigung zu kommen, wird man über einige Punkte diskutieren müssen. Der Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft und eine garantierte Neutralität der Ukraine ist der wichtigste Punkt. Darüber hinaus muss für nach dem Krieg eine große internationale Sicherheitskonferenz angedacht werden, ähnlich wie die der KSZE in Helsinki 1975, wo dann die Ergebnisse mit Zusicherungen und Verträgen zwischen Russland und dem Westen abgesichert werden. Die heutige OSZE ist dafür wahrscheinlich nicht mehr das richtige Format, weil sie blockiert ist. Modell könnte eine Konferenz der Staaten, ähnlich dem Wiener Kongress nach 1815 sein, die eine Neuordnung der sicherheitspolitischen Ordnung für eine neue Stabilität verhandelt. Man hat den Frieden auf Jahrzehnte gesichert. Es sollten also alle OSZE-Länder dabei sein. Russland hätte die Chance, Gesprächspartner zu werden.

DIE FURCHE: Wenn man auf dem Standpunkt der Souveränität und Entscheidungsfreiheit der Ukraine, aber auch der Rechtsstaatlichkeit und des Völkerrechts besteht, dann müsste man Putin also gewissermaßen Teile seiner illegalen Forderungen erfüllen.

Gärtner: Russland hat das Völkerrecht verletzt, aber eine Basis ist nötig, auf der ein Zusammenleben ohne Krieg möglich ist. In diesem Sinn wird das Recht, das jetzt keine Chance hat, neu aufgesetzt und verhandelt. Ein bedingungsloser Abzug der russischen Truppen ist jedenfalls nicht realistisch. Man muss versuchen, möglichst viele der rechtsstaatlichen Prinzipien zurückzubekommen.

DIE FURCHE: Und was ist mit den Kriegsverbrechen der russischen Truppen, die teilweise ja auch schon offenkundig sind? Müsste man da nicht auch Putin nach einem Krieg zur Rechenschaft ziehen?

Gärtner: Präsident Putin wird sich einem internationalen Strafgerichtshof nicht freiwillig stellen. Er müsste zuvor sein Amt verlieren, wie das beim serbischen Präsident Slobodan Milošević 2001 der Fall war. Und dafür gibt es ja auch historische Vorbilder aus Lateinamerika, wie das gehandhabt werden kann. Kriegsverbrechen hat es auch in den Kriegen in Afghanistan und im Irak gegeben, wo man die gleiche Forderung stellen muss. Es besteht ja auch das Problem, dass die USA nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes sind.

DIE FURCHE: Wenn von Verhandlungen die Rede ist: War nicht die Sowjetunion ein einfacherer Verhandlungspartner als Russland unter Putin – im Sinn von „rationaler“? Das schränkt doch auch sehr die Erfolgsaussichten ein.

Gärtner: Die Frage ist, ob nicht eine gewisse Rationalität auch im Kopf Putins sitzt. Er ist kein Hitler, schon deswegen, weil ihm dafür die militärischen Kapazitäten fehlen. Nazideutschland hatte vor dem Zweiten Weltkrieg immerhin im Vergleich zwei Drittel der militärischen Kapazitäten der Kriegsgegner, im Fall Russlands Militärausgaben sind es nur acht Prozent von denen der NATO. Deshalb hat Putin wohl auch früh Nuklearwaffen ins Spiel gebracht, aus der Gewissheit, dass er einen konventionellen Krieg gegen die NATO verlieren würde. Es ist dennoch möglich, dass man ähnlich wie bei der Kubakrise eine Lösung erreicht, aus der beide Seiten als Manager des Weltfriedens hervorgehen. Ohne Zugeständnisse von beiden Seiten wird die Situation jedenfalls eskalieren.

DIE FURCHE: Können die Wirtschaftssanktionen Putin derart in die Enge treiben, dass er auf die nukleare Karte setzt, entweder über die Bedrohung von AKWs oder direkt durch Raketen?

Gärtner: Es wird nicht funktionieren, Putin mit Wirtschaftssanktionen so in die Enge zu treiben, dass er Truppen abzieht, selbst wenn die Maßnahmen den politischen Eliten und der Wirtschaft sehr schaden. Es hat auch in der Geschichte bei anderen Staaten nicht funktioniert, dass Sanktionen tatsächlich eine politische Verhaltensänderung ausgelöst hätten. Sanktionen haben weder im Irak noch in Nordkorea noch im Iran in diesem Sinn funktioniert. Dass sie politisch wirken, ist ein Narrativ ohne Wahrheitsgehalt. Sie könnten aber zur Verhandlungsmasse werden, wenn Putin einmal dazu bereit ist. Ich muss aber hinzufügen: Ich bin nicht gegen Sanktionen, Sanktionen sind nicht an sich falsch. Sie bringen nur keine politische Verhaltensänderung beim sanktionierten Staat.

DIE FURCHE: Ich fasse zusammen: Wenn man einen Frieden mit Russland will, muss man bereit sein nachzugeben.

Gärtner: Man muss teilweise nachgeben, um etwas zu bekommen, und man wird keine Maximalforderungen durchsetzen können.

DIE FURCHE: Von wegen Narrativ: Putins Erzählung zur Ukraine ist bekannt und widerlegt, aber sehen Sie denn auch Schwächen in den Narrativen zur Ukraine von Seiten des Westens?

Gärtner: Es war eine Fehleinschätzung zu sagen: „Na ja die Russen werden schon akzeptieren, wenn man auch die Ukraine in die NATO aufnimmt.“ Und es ist eine Fehleinschätzung zu glauben, dass man das jetzt auch noch durchsetzen kann, da der Krieg in vollem Gange ist, und die russischen Truppen auf dem Vormarsch sind. Ein Abzug der russischen Truppen wird vermutlich nur über die Neutralität führen können. Eine Autonomie der Krim einerseits und des Donbass andererseits könnten dann auch verhandelt werden.

DIE FURCHE: Um zu einem österreichischen Thema zu kommen, Teile der ÖVP halten die Neutralität nicht mehr für zeitgemäß angesichts der Bedrohung. Sehen Sie das auch so?

Gärtner: Es wäre ein großer Fehler, jetzt in die NATO einzutreten. Österreich hatte nie eine moralische Neutralität, sondern eine gegenüber militärischen Blöcken. Wir haben von dieser Sonderstellung, dieser Anomalie des Kalten Krieges, profitiert. Und das ist damals von beiden Seiten, Ost und West so gewünscht worden. Dass nur die Sowjetunion die Neutralität verordnet hätte, ist ein falsches Narrativ. Jetzt zu sagen, Österreich soll der NATO beitreten, heißt, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten – das gefährdet uns mehr, als es unserer Sicherheit nutzt. Wäre nicht die Neutralität gewesen, auch eine Teilung Österreichs wäre im Raum gestanden, so wie sie jetzt auch der Ukraine droht.

DIE FURCHE: Das russische Außenministerium hat scharfe Kritik an der Bundesregierung, an Kanzler Nehammer und Außenminister Schallenberg geübt, die immer im Sinn des Westens gesprochen haben.

Gärtner: Ich finde, das russische Außenministerium hätte da besser zuhören sollen. Nehammer hat das sehr gut gemacht, indem er betont hat, dass Österreich ein neutraler Staat ist, aber dass es auch um Werte geht und um das Völkerrecht und um die Souveränität der Ukraine. Ich denke Russland hat uns gewarnt, dass es nicht gerne eine finnische Debatte haben will über einen NATO-Beitritt, aber der Bundeskanzler hat das ohnehin ausgeschlossen. Ich glaube, das war eine Überreaktion Russlands. Österreich hat als engagiert neutraler Staat sogar die Verpflichtung, Stellung zu beziehen, wenn es um die Einhaltung des Völkerrechts und die Verletzung von Menschenrechten geht. Das betrifft aber nicht nur Russland.

Heinz Gärtner - ©  Foto: Wikipedia (cc by-sa 3.0)

Prof. Dr. Heinz Gärtner ist Lektor im Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und der Donau-Universität Krems. Davor war er wissenschaftlicher Direktor des Österreichisches Instituts für Internationale Politik. Desweitern erhielt er mehrere Fulbright-Professuren und hatte den österreichischen Lehrstuhl an der Stanford Universität inne. An der Johns Hopkins Universität in Washington DC war er Fellow der Austrian Marshall Plan Foundation. Derzeit leitet er den Beirat des International Institute for Peace (IIP) und sitzt dem Strategie- und Sicherheitspolitischen Beirat des Österreichischen Bundesheeres vor. Prof. Dr. Gärtner publiziert zu zahlreichen Themen wie internationale Sicherheit, transatlantische Beziehungen und mittlerer Osten. Er erhielt den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch.

Prof. Dr. Heinz Gärtner ist Lektor im Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und der Donau-Universität Krems. Davor war er wissenschaftlicher Direktor des Österreichisches Instituts für Internationale Politik. Desweitern erhielt er mehrere Fulbright-Professuren und hatte den österreichischen Lehrstuhl an der Stanford Universität inne. An der Johns Hopkins Universität in Washington DC war er Fellow der Austrian Marshall Plan Foundation. Derzeit leitet er den Beirat des International Institute for Peace (IIP) und sitzt dem Strategie- und Sicherheitspolitischen Beirat des Österreichischen Bundesheeres vor. Prof. Dr. Gärtner publiziert zu zahlreichen Themen wie internationale Sicherheit, transatlantische Beziehungen und mittlerer Osten. Er erhielt den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch.

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