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„Unbegreifliches“ Finnland?

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Wer die Kommentare liest, die in der deutschsprachigen Presse über die politischen und wirtschaftlichen Probleme Finnlands erscheinen, stellt sich mitunter die Frage, ob Finnland wirklich noch — wenige Flugstunden von dem Erscheinungsort der Zeitungen entfernt! — in unserem Erdteil liegt und woher diese Kommentatoren ihre Informationen bezogen, wo sie ihre Eindrücke gewonnen haben. Diese Un-inforiniertheit und die daraus entspringende Geneigtheit, vollständig falsche Schlüsse zu ziehen, fällt sogar so ausgeprägten Parteipolitikern wie Herbert Wehner in Bonn auf, der im „Vorwärts“ vom 26. Juni dieses Jahres in einem „Brief nach Helsinki“ wiederholt und nachdrücklich feststellt, wie schlecht unterrichtet der deutsche Leser über finnische Probleme ist. So heißt es in diesem Artikel unter anderem:

„Die Information über Finnland ist so kärglich, daß kaum jemand imstande ist zu beurteilen, welche Bedeutung Sachentscheidungen haben können.“

„Niemand (!) vermag sachgemäß zu beurteilen, was es tatsächlich bedeutet, daß einerseits Leskinen . . . nicht wiedergewählt worden ist, während Lind-blom wiedergewählt wurde. Es wird hie und da Kenntnis davon genommen, Paasio habe es zur Bedingung für die Annahme seiner Wahl zum Parteivorsitzenden gemacht, daß Tanner und andere, die man als „Belastung“ für das Verhältnis Finnlands zur Sowjetunion zu bezeichnen pflegt, nicht wieder in den Pateivorstand gewählt werden.“

„Über die politische Akzentuierung, die mit Personennamen verbunden ist, kann sich niemand eine auch nur einigermaßen zutreffende Vorstellung machen.“

„. . . ich komme mir wie ein Mann vor. der etwas weiß, das die meisten anderen hier falsch einschätzen.“

„Man vermag sich kein rechtes Bild von eurem Vorsitzenden zu machen, weil man fast nichts über die Wechselfälle und tatsächlichen Ereignisse im politischen Tauziehen um und in Finnland weiß ,.. Nur wenige finden sich zurecht..,“

Dieser Klagegesang über das Versagen der deutschen Presse — denn ein solches ist es ja wohl! — erstreckt sich über gut zwei Drittel dieses Artikels. Es ist nur ein halber Schritt auf dem richtigen Weg, denn an tatsächlicher Information über Finnland bietet dieser Artikel nichts, enthält er ja nicht einmal die Erkenntnis der eigenen Schuld.

Warum Tanner nicht wiedergewählt wurde

Es ist kein Geheimnis, daß gerade Herbert Wehner die Information des „Vorwärts“ über finnische Probleme parteitaktischen Erwägungen unterordnet. Denn es ist natürlich nicht wahr, daß „niemand“ zu beurteilen vermag, weshalb Leskinen (Wehner schreibt sogar diesen Namen falsch) und Tanner nicht wiedergewählt werden konnten. Väinö Tanner war 1946 von einem finnischen Gericht als „Kriegsverbrecher“ zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden und ist seit dieser Zeit bei den Russen in höchstem Maß persona ingrata; Leskinen ist durch einige schwere Verkehrsvergehen belastet; beide Politiker wurden als unversöhnliche Gegner der abgesplitterten sozialdemokratischen Opposition betrachtet und als ein Hindernis auf dem Weg zu einer Wiedervereinigung der streitenden Fraktionen, zur Regierungsfähigkeit der Sozialdemokratie und damit zur Stabilisierung der innerpolitischen Verhältnisse Finnlands. Gerade das aber hat der Zweite Vorsitzende der SPD den Lesern des Zentralorganes der Partei in seinem „Brief nach Helsinki“ nicht erzählt, und beruhigt in dieser Gewißheit kommt er sich „wie ein Mann vor, der etwas weiß, das d; meisten anderen falsch einschätzen!“

Unvergessene Vergangenheit

Durchforscht man die mehr als 40-jährige Geschichte der Republik Finnland nach den Ursachen der wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der Gegenwart, so lassen sich ohne besondere Mühe einige Hauptlinien erkennen.

• Der Mangel an Rohstoffen und die späte Industrialisierung des Landes.

Der unverhältnismäßig große Anteil der Landwirtschaft und die Zersplitterung auf landwirtschaftlichem Gebiet.

Der Bürgerkrieg und seine politischen Nachwirkungen.

Der verlorene Krieg gegen die Sowjetunion an der Seite Hitler-Deutschlands.

Der Kapitalmangel beim Aufbau einer modernen Industrie.

Es ist unmöglich, im Rahmen eines einzelnen Artikels alle diese Ursachen zu untersuchen. Hier sei nur kurz auf die Folgen des blutigen Bürgerkrieges von 1918 verwiesen. Die radikalisierte Arbeiterschaft, die bereits 1907 zwar einen großen Wahlsieg, aber kaum eine Spur von wirklichem Einfluß errungen hatte, schritt zur Bildung einer Roten Garde, die Weiße Garde erhielt den Charakter einer Regierungstruppe und siegte unter Mannerheim in der entscheidenden Schlacht bei Tammerfors. Der folgende weiße Terror gegen die Arbeiterschaft ist eines der unglücklichsten Kapitel in der Geschichte Finnlands: Tausende Arbeiter wurden nach den Kämpfen ohne Urteil hingerichtet, 90.000 wurden in die Konzentrationslager gesperrt, 15.000 von ihnen starben an Hunger und Mißhandlungen. Nach einer Aussage Väinö Tanners vor dem Rathausgericht in Helsinki wurden nach unvollständigen Berichten 15.817 Arbeiter erschossen oder auf andere Weise umgebracht. Die Erinnerung an diesen Bürgerkrieg lebt immer noch. Bei einem Teil der Arbeiterschaft ist deshalb der Kommunismus, genährt durch die Flamme des nie verlöschenden Hasses, ein politisches Erbteil geworden.

Die! faschistische Lappo-Bewegung zu Beginn der dreißiger Jahre, das Bewußtsein eines roten siegreichen Rußlands nach dem verlorenen Krieg, die Nachbarschaft der Karelischen Autonomen Sowjetrepublik und das Vorhandensein einer starken kommunistischen Partei innerhalb der Landesgrenzen trug zur Erhaltung der Spannung bei. Die Kommunisten anderseits konnten nicht vergessen, daß ihre Parlamentarier zur Zeit der Lappo-Bewegung von einer bürgerlichen Regierung verhaftet und1“' eingekerkert worden wäre; und ihre Partei vierzehn Jahre lang verboten war. Das alles ist unvergessene Geschichte und lebt noch, und das ist noch lange nicht alles!

Die Armut in den finnischen Landgebieten ist auch heute noch groß. Dreißig Prozent der Bevölkerung leben von der Land- und Forstwirtschaft und vierundvierzig Prozent der Höfe sind nicht größer als zwei Hektar. Die unerläßliche Rationalisierung innerhalb der Landwirtschaft — die sich beispielsweise im benachbarten Schweden in der Niederlegung von zwölf kleineren landwirtschaftlichen Betrieben täglich äußert! — geht in Finnland nur langsam vorwärts. Die schwedische kommunistische Partei hat mehr gutverdie-nendei Facharbeiter und Intellektuelle in ihren Reihen als die Sozialdemokratie, ih Finnland dagegen verdienten nach iner vor drei Jahren vorgenommenen Untersuchung einundzwanzig Prozent der sozialdemokratischen Wähler ober 600.000 alte Finnmark jährlich, während nur acht Prozent der kommunistischen Wähler diesen keineswegs hohen Standard erreichten.

Durch die russische Wiedergutmachungsforderungen dazu getrieben, schritt man nach dem zweiten Weltkrieg an den Aufbau einer leistungsfähigen Industrie. Es muß anerkannt werden, daß Finnland hier unter schwersten Bedingungen Hervorragendes geleistet hat. Während früher das Holz und die Holzverarbeitung dominierten, besitzt das kleine Land heute eine beachtenswerte Maschinenbauindustrie, liefert komplette Produktionsanlagen nach Rußland und Übersee, Lokomotiven, Schiffe, elektrotechnische Apparate, moderne Möbel, rostfreie Artikel für den Haushaltsbedarf und viele andere Produkte. Finnland eroberte sich auch einen beachtenswerten Marktanteil im Westen. Nur ging eben diese Entwicklung nach Ansicht des durchschnittlichen finnländischen Staatsbürgers — der immer das schwedische Beispiel vor Augen hat — zu langsam. Und so stellt man Lohnforderungen, die im Produktionsanstieg keine Deckung besitzen, und die unheimliche Lohn-Preis-Schraube ist wieder in Bewegung!

Mit sehr großen Erwartungen blickte man deshalb überall im Norden auf den Parteitag der Sozialdemokraten, der Mitte Juni in Helsinki stattfand. Von diesem Parteitag erwartete man die Wahl eines Vorstandes, der die Splitterung beseitigen und gemeinsam mit den progressiven Kräften im bürgerlichen Lager an die Lösung der großen Wirtschaftsprobleme Finnlands gehen würde. Die Regierung Karjalai-nen kämpfte mit einer gefährlichen Krise der Staatsfinanzen, denen durch ein großes Sanierungsprogramm eine neue Grundlage gegeben werden sollte. Dazu braucht man die Hilfe der Arbeiterparteien und Gewerkschaften.

Vertrauensvorschuß für Paasio

Der Parteitag wählte Rafael Paasio zum Parteiführer, holte auch K. A. F a g e r h o 1 m in die Parteileitung zurück und lehnte mit Mehrheit die Wiederwahl des umstrittenen und vom alten Parteivorstand wieder vorgeschlagenen Leskinen ab, obwohl dieser in einer großen Rede erklärte, daß er freiwillig niemals zurücktreten werde. Das Wahlresultat wurde in allen politischen Kreisen freundlich kommentiert.

Der heute sechzig Jahre alte Paasio genießt ziemlich allgemein ein gutes Ansehen. Bei den letzten Präsidentenwahlen war er — über Wunsch der Parteileitung — der Gegenkandidat Kekkonens, in ziemlich hoffnungsloser Position, was kaum jemand besser gewußt haben dürfte als Paasio selbst. Der neue Parteiführer ist ein Zimmermannssohn von Uskela im südwestlichen Finnland, begann seine politische Laufbahn im Sozialdemokratischen Jugendverband, kam 1939 in den Parteivorstand und wurde 1942 Chefredakteur der Parteizeitung in Aabo. Er wurde 1948 Reichstagsmitglied und 1951 Sozialminister in der Regierung Kekkonen; in der letzten Regierung Fagerholm war er Handels- und Industrieminister.

Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man festhält, daß viele politisch interessierte Finnländer heute ihre Hoffnung auf Rafael Paasio setzen; allzu lange währte die verhängnisvolle

Spaltung der finnischen Arbeiterbewegung und allzu lange versuchte die Agrarpartei allein mit den Regierungssorgen fertig zu werden. Die Sanierung der Staatsfinanzen führte bereits zur Erhöhung der Post-, Eisenbahn-und Telephontarife. Nun erwägt eine Expertenkommission unter der Leitung des Direktors der Reichsbank einen Preis- und Lohnstopp, eine Erhöhung der Gesellschaftssteuern und der Einkommensteuern und eventuell auch eine Art Zwangsanleihe. Das ist eine bittere Medizin für die Gesundung der Wirtschaft Finnlands, aber sie wird eingenommen werden müssen.

Erste Kontakte Agrarier-Sozialisten

Zwischen der Sozialdemokratischen Partei und den Agrariern ist es inzwischen zu ersten Kontakten gekommen, die allerdings noch nicht den Charakter offizieller Begegnungen haben. Landwirtschaftsminister Virolainen ging so weit, im schwedischen Fernsehen zu erklären, daß er auf eine möglichst baldige Mitarbeit der Arbeiterpartei hoffe. Nach der Bewältigung der dringendsten Probleme wird man dann endlich darangehen können, die Sünden und die Schuld der Vergangenheit abzuschreiben — es ist wahrlich höchste Zeit!

Finnlands Probleme sind alles andere als unbegreiflich und unlösbar; man muß nur den Mut haben, sie zu sehen wie sie sind. An diesem Mut fehlte es bisher, in Finnland und auch anderswo ...

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