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Unbehagen — auch im Sozialismus

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ln weiten Teilen der Erde ist die Produktivität des erwerbstätigen Menschen in e einem ungeahnten Ausmaß gestiegen. Wich- v tiger als das Produzieren von Angebot r scheint uns- in der Gegenwart das Produzieren von Nachfrage zu sein, deren Steigerung sich neue Industrien widmen. Die « nun einmal provozierte Nachfrage wächst j jedoch über das verfügbare Nachfragever- I mögen der Angesprochenen hinaus. Steigt c die Kaufkraft der Massen linear, so stie- i gen die von außer her provozierten Be- 1 dürfnisse progressiv. Die Folge ist der 1 Hunger der Satten und ein Fordern nach i einem Mehr an Einkommen, dem jedes : Maß verlorengegangen ist. Jeder erreichte ( ökonomische Fortschritt ist bereits vorweg i überkompensiert durch ein Unmaß neuer i Bedürfnisse. Anderseits wächst unverkennbar — wieder in weiten Teilet der Erde — i der Hunger. Medizin und hygienische Pra- xis halten mehr Menschen denn je am ; Leben, aber in einem Leben, das kein Sattsein kennt. Überfluß und Mangel finden keine Deckung.

Angesichts dieser Tatsachen, des Unvermögens, das, was wir die „Soziale Frage“ nennen, auch nur einigermaßen zu lösen, steigt die Ratlosigkeit — auch der Sozialisten. Der Ratlosigkeit entwächst wieder das „Unbehagen“ im sozialistischen Lager, von dem uns Fritz K1 e n n e t, der Historiker der österreichischen Gewerkschaftsbewegung und einer der Repräsentanten des sozialistischen Humanismus, in seinem letzten Werk kühlen Sachbericht und leidenschaftslose Diagnose gibt.

Viel unter uns leben noch in der Annahme, es bestünde ein Gegensatzpaar von Kapitalismus und Sozialismus. Die Wirklichkeit zeigt uns aber, daß sie beide in einer erstaunlichen Weise einander nähergekommen sind. Der Kapitalismus (tatsächlich eine komplexe und kaum in einer Formel darstellbare Erscheinung) ist nun gezwungen, viele der Marxschen Prognosen selbst an sich wahr zu machen und sich in einer bedenklichen Weise in Konzentrationsgebilden zu vergegenständlichen. Wenn aber je die sogenannte Privatwirtschaft in kleingewerbliche Produktionsweisen auszubrechen sucht, weist sie der Kommunismus, die Angst vor ihm und seinen ökonomischen Fortschritten, auf den Weg weiterer Konzentration, an deren Ende, nach der Weissagung von Marx, die perfekte Verstaatlichungsreife stehen soll.

Der Sozialismus, dem menschliche Wohlfahrt einmal von einer Enteignung der Enteigner abhängig zu sein schien, muß dagegen erkennen, daß die konkrete Freiheit, auf die er glaubte verzichten zu können, von denen, die er satt gemacht hat, in einem mit der Sättigung begehrt wird. Daher die (relative) Liberalisierung im Sozialismus.

In einer sozialgeschichtlichen Schau — an Hand voft vielen Zahlen — verweist uns der Autor auf den Prozeß der Ver- machtung in jenen Regionen der Wirtschaftsführung, die man oberflächlich einer „Privateigentumsordnung“ zurechnet und dies, ohne zu versuchen, diese Ordnung neu zu definieren. Aber auch der Sozialismus wird unglaubwürdig in jenem Maß, in dem er sich scheinbar verwirklicht.

Es mag nun sein, daß die Entwicklung unvermeidbar ist und daß sich Kapitalismus und Sozialismus in einem Schnittpunkt der Entwicklung treffen, der nicht von ihnen, sondern von der Produktionstechnik und von der Nachfrageweise des Menschen gesetzt ist. Jedenfalls erkennt man auch im Lager des Sozialismus in einer Art von heilsamer Resignation, daß der Sozialismus, so wie er sich als Lehrgebäude einst darbot, mit der Natur der

Gesellschaft, in der doch auch die Natur des Menschen durchbricht, nicht abgestimmt worden ist. Daher der schöpferische Rückzug auf einen Rest-Sozialismus, auf n. die Erkenntnis, daß nach Abstrichen der

er Sozialismus in einzelnen Bereichen der

r- Wiitschaftsgesellschaft wohl anzuwenden d sei: Da, wo nur noch der Staat als Fi- zi nanzier auftreten kann und in jenen Re- ta gionen des Wirtschaftens, in denen es das II- Interesse der Gesellschaft verlangt, daß die ‘r, öffentliche Hand sich wirtschaftend enga- tr. giere. Sonst aber scheint es zu genügen, m wenn die Sozialisierung sich auf die Koner ;rolle des Eigentumsgebrauches beschränkt, es So verstehe ich die Summe der Erwägungen von Fritz Klenner.

Wie sehr das Unbehagen der Sozialisten 1 in solches über den Sozialismus ist. ‘ rird da sichtbar, wo der Verfasser sich : ait den Gewerkschaften beschäftigt.

Di« Gewerkschaftsbewegung war die :rste revisionistische „Entartung“ im mar- istischen Sozialismus. Einfach durch ihr Ja-Sein. War doch dieses und noch mehr" ler Erfolg des gewerkschaftlicher Wirkens ‘eeignet, die These vom Fortschreiten der erelendung deT Arbeiterklasse zu wideregen. Wir dürfen kaum bestreiten, daß es m vorigen Jahrhundert in Europa Ansätze :um Entstehen einer „Revolutionsreife“ der Gesellschaft gab. Die Gewerkschaften kehrten durch ihr Verhalten den Prozeß in sein Gegenteil um. Heute sind sie selbst nicht Teil gegen das Ganze der Gesellschaft, sondern Teil vom Ganzen. Mehr noch: ln Verpflichtung für das Ganze genommen. Mitsouverän. Belastet mit dem Odium von .Obrigkeit“. In Grenzsituationen, wie wir sie nun erleben, zum Stillhalten verpflichtet, wenn ein Fordern das Ganze — und damit auch die Arbeiterschaft — gefährdet.

Fritz Klenner bekennt sich als ethischer (humanistischer) Sozialist. Das heißt: ber Sozialismus ist ihm nicht eine „Wirtschaftspartei“ der Arbeiter, sondern vor allem ein sittliches Anliegen. Daher auch das sooft bewiesene Verständnis des Autors für dia Anliegen der christlichen Sozialreform, über die er nicht hochnäsig — als einem „Opium.“ für die Arbeiter — urteilt. Im Gegenteil. Auch die christliche Sozial- reform. als eine Summe von Forderungen an den Menschen und an die Gesellschaft, ist ihm ein legitimes Anliegen. Das will keineswegs die Chance einer Verchrist- lichung des Sozialismus andeuten. Der Sozialismus hat nur und unvermeidbar inner- weltliche Bezüge. Er ist daher nicht Gegen- Kirche.

Und auch keine Ersatzreligion. Anderseits will Klenner dem atheistischen Sozialismus (ohne ihn zu definieren) auch eine Heimstatt im Sozialismus bieten. Das Bemühen um die Gewinnung von Wohlfahrt für den Menschen setzt — nach Klenner — kein bestimmtes Bekenntnis in Fragen des Glaubens und des Nicht-Glaubens voraus. Die Tatsache, daß eine Sozialreform nur unter Bedachtnahme auf das Sittengesetz mit Aussicht auf Erfolg aktiviert werde kann und daß die Interpretation dessen, was man unter Sittengesetz versteht, doch vom Atheisten zum Christen hin verschieden sein müsse, wird nicht untersucht. Leider. Es wäre dem Selbstverständnis eines Sozialismus, der nicht nur Sozialtechnik sein will, gedient, würde er sich nicht als ein uniformes Ganzes verstehe und erkennen, daß eine perfekte Sozialreform (soweit eine solche möglich ist) in der Darstellüngsweise eines Sozialisten, der vom christlichen Sittengesetz ausgehen will, eine besondere Eigenart gegenüber anderen sozialistischen Versuchen hat und haben muß.

Der Sozialismus ist — wie das „christliche Abendland“ — vom Materialismus bedroht. Wenn man sich der marxistischer Annahme bedient, daß der Unterbau, Wohlstand und Wohlfahrt als Sattsein, die Ideen mitzubestimmen vermag, mul der Sozialismus in einer konsequenter Überlegung seiner bestimmenden Ideen siel ven den einzelne Sozmlisten, von der Menschen, die er satt gemacht hat, bedroht fühlen. Daher die radikale Forderung von Klenner nach einem moralischer Überbau, nach einem Sittengesetz, da: autonom ist und nicht materielle Sachverhalte reflektiert. Und nu eine Art vor Anbot, ein ergreifendes Anbot, wenn mar es unvoreingenommen deuter will: Die Kirche wolle doch im Sozialis mus, in der Region der Arbeiterschaf „Missionsland“ sehen. Das soll heißen daß die Kirche vom Sozialismus — vor einem seiner Repräsentanten — aufgerufet wird, die kritische Schwelle in das Lan der sozialistischen (und sozial! stisch bleibenden) Arbeiterschaf (nicht der Arbeiterschaft allein) zu über schreiten und jenseits von Brot und Frei zeitchancen sich mit ihren sittlichen Nor men darzubieten.

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