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Unflexibles Entweder-oder-Denken

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Der indische Premierminister hatte mit seinem Schreiben bei der jungen amerikanischen Studentin keinen Erfolg. In ihrem Aufsatz gelangte sie zum Schluß, daß Indiens Neutralismus ein bloßer Mythos sei, und zwar „ganz einfach wegen des Verhaltens, das Indien gegenüber den Kommunisten im vergangenen Jahr mehrmals an den Tag gelegt hat, und weil einige indische Delegierte in der Kongofrage vor den Vereinten Nationen auf Seiten der Kommunisten standen“. Die Agentur Reuter bot diesen Briefwechsel kommentarlos der Weltpresse an. Einige indische Blätter druckten den Bericht ab. Der Verfasser hatte Gelegenheit, innerhalb und außerhalb Indiens den Inhalt zu diskutieren. Zu seiner Überraschung stellte er bei dieser Umfrage fest, daß so gut wie alle Inder in dieser Angelegenheit Partei für Pandit Nehru nahmen und fast alle westlichen Menschen mehr oder weniger eindeutig auf Seiten der Miß Jeffrey standen. Zumal die Amerikaner der Vereinigten Staaten scheinen kaum in der Lage zu sein, zu begreifen, daß eine Haltung, wie sie der indische Premier zum Ausdruck brachte, mehr als ein bloßer Mythos ist. Die Angehörigen des christlichen, vor allem des kalvinistischen Kultur-kreises gehen bei solchen Angelegenheiten leicht von der Maxime aus: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Feste Entscheidungen zu treffen, sich grundsätzlich zu verhalten, einen gewissen Standpunkt zu beziehen und durchzusetzen, sind in Nordeuropa und Nordamerika (nördlich von Mexiko!) unbestreitbar hohe Werte. Vielleicht ist es kein Zufall, daß der Puritaner John Foster Dulles die obige Maxime zum Leitmotiv seiner Außenpolitik gemacht hatte, während der Katholik Kennedy, irischer Abstammung, von ihr sehr erhebliche Abstriche vornahm. Das amerikanische Volk kann aber in seiner Gesamtheit nicht derart schnell umdenken.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß der indische Neutralismus, der sich als Politik der Blockfreiheit, des sogenannten „non-alignment“, verstanden wissen will, lediglich ein Bekenntnis der gegenwärtigen Regierung in Neu-Delhi darstelle und morgen schon durch eine Allianz mit dem Westen oder Osten ersetzt werden könne. So, wie sich Washington in seinem gegenwärtigen Verständnis für den Neutralismus anderer Länder nicht zu weit von der wenig flexiblen Grundhaltung des amerikanischen Volkes entfernen kann, so ist Nehru und jeder zukünftige Ministerpräsident der Indischen Union an die Vorzeichen der Kulturtradition seines Landes in hohem Maße gebunden. Diese Vorzeichen wurden durch den Hinduismus geprägt, welcher sich weigert, die Welt in zwei Hälften zu teilen, von der die eine von Grund auf gut und die andere von Grund auf böse ist. Nach den alten Texten, wie sie schon vor viertausend Jahren auf Grund der mündlichen Überlieferung aufgezeichnet wurden, gibt es keine böse Welt im Gegensatz zu einem guten Gott. Die vorherrschende hinduistische Auffassung neigt dazu, das Gute als „auch Schlechtes“ und das Schlechte als „auch Gutes“ zu sehen oder rundweg den dualistischen Charakter des Daseins zu leugnen. Derart ist der Hindugott nicht einfach gut wie der christliche Gottvater, sondern jenseits von Gut und Böse oder — wie es ein indischer Philosoph formulierte — „mächtiger als ein bloß guter Gott“. Wer den Scheincharakter der äußeren Welt durchschaut hat und begreift, daß echtes Glück nur durch eine Distanz von den materiellen Glücksgütern erreicht werden kann, hat einen Geisteszustand erreicht, der ihn über das Dasein gewöhnlicher Sterblicher erhebt. Für ihn kann dann etwas erlaubt sein, was für andere Sünde wäre. Jedenfalls ist für das indische Empfinden das Glück nicht bloß die Abwesenheit des Unglücks und ein heilig-mäßiger Zustand, nicht einfach ein Leben ohne Sünde. Der Hinduismus kennt keinen Erlöser, der den Menschen die Welt vom Übel befreite. Gemäß seiner Kulturtradition ist jeder Inder auf sich selbst gestellt. Er ist aufgerufen, sich selbst zu erlösen, was für sein Empfinden erst nach vielen Wiedergeburten im Bereich der Möglichkeit steht. Dieses Fehlen eines Erlösers jenseits von ihm und außerhalb dieser Welt und die Einheitsschau, welche den Inder sich selbst im andern sehen läßt, bedeutet schließlich, daß im Denken dieses Volkes ein „Du“ im westlichen Sinne fehlt, überhaupt keine christliche Relation errichtet werden kann und eine eigene Bindung für die eine oder andere Partei beziehungsweise gegen die eine oder andere Partei letztlich völlig sinnlos ist. Von dieser Warte aus müssen der Mangel an Mitleid und sozialer Gerechtigkeit, aber eben auch .das Bekenntnis für den Neutralismus gesehen werden. Gerade, daß sich zwei Parteien schroff gegenüberstehen, ist für den Inder der Beweis dafür, daß sie beide unrecht haben. Hätten sie die

richtige Haltung eingenommen, so wäre es gar nicht zu dieser schroffen Gegenüberstellung gekommen. Die Existenz von erheblichen Machtmitteln schafft für ihn an sich schon ein feindliches Verhältnis.

In seinem Gespräch mit Tibor Mende* sagt J. Nehru wörtlich: „Sicherlich kann man nicht sagen, es gibt in dieser Welt nur zwei Ideen: die kommunistische und die westliche. Das wäre eine Vergewaltigung unseres Denk- und Handlungsvermögens. Es ist wahr, daß diese beiden Ideen oder Ideologien in gewissem Sinn unsere heutige Welt dominieren und miteinander kollidieren; aber der Grund hierfür liegt zum großen Teil darin, daß hinter diesen Ideologien ungeheure militärische und wirtschaftliche Machtmittel stehen. In Wahrheit dominiert also nicht die Ideologie, sondern die dahinterstehende Macht. Jedoch hat sich bezüglich der Machtmittel eine neue Situation ergeben: Die Existenz der nuklearen und supernuklearen Waffen zwingt jedes Land, ganz neu zu denken. Angesichts der Möglichkeit vollkommener Vernichtung ist der Krieg keine Lösung mehr, sondern macht alles nur unendlich viel schlimmer. Wenn wir nun Indien betrachten — und ich spreche hauptsächlich von Indien, obgleich das, was ich sage, auch in gewissem Grad auf andere asiatische Länder zutrifft —, so muß man die Besonderheiten unseres Landes berücksichtigen. Wir Inder haben für politische und wirtschaftliche Freiheit, für unsere Selbstbehauptung und unsere eigene Entwicklung gekämpft. Wir kamen mit der britischen Herrschaft in Konflikt, wir forderten sie heraus, aber nicht militärisch — das konnten wir nicht —, sondern friedlich. Die Umstände waren günstig, und wir hatten Erfolg. Aus diesem Grund neigen wir dazu, der militärischen Seite eines Problems weniger Bedeutung beizumessen als der friedlichen — abgesehen davon, daß eine militärische Lösung nicht in unserer Macht steht. In diesem Sinn sind wir keine militärische Nation. Unsere Herkunft, unsere Sitten und Gebräuche, unsere Denkungsart haben uns überzeugt, daß der militärische Weg — obwohl er in der Weltgeschichte eine große Rolle gespielt hat — unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht der richtige ist. Der Krieg sollte vermieden werden; und wenn er vermieden wird, so sollte er auch aus unserem Denken soweit wie möglich verschwinden.“

Es ist mir während meines Indienaufenthalts immer wieder aufgefallen, wie wenig die Inder an die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges glauben. Freilich hat dieses Land so viele eigene Probleme zu meistern, daß der einzelne kaum noch an die Weltpolitik denken kann. Wo sozusagen niemand etwas zu verlieren hat, glauben die meisten, durch eine Veränderung der politischen Großwetterlage nur gewinnen zu können. Schließlich aber spiegelt sich in dieser Haltung die vom Westen so grundverschiedene Überzeugung wider, daß eine machtmäßige Besiegung gar keine t o-t a 1 e Besiegung darstellt. Wer sich nur dadurch vor einer Fremdherrschaft rettet, indem er den Gegner zum bösen Mann stempelt, gegenüber dem man sich sehr viel besser vorkommt, der hat nach orientalischer Auffassung mehr verloren als gewonnen. Es darf nicht erstaunen, wenn früher oder später sämtliche Länder des Mittleren und Fernen Ostens — auch Pakistan und Japan — immer mehr ins neutralistische Fahrwasser geraten. Die Blockfreiheit, das Sich-nicht-Engagieren, vor allem aber die LInabhängigkeit in der Auseinandersetzung zweier im Grunde genommen westlicher Ideologien, sind dem Orient wesenseigen. Indien würde nicht mehr Indien sein, wenn es sich einmal der kommunistischen oder neokapitalistischen Welt verschriebe.

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