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Unsere Autos werden geräumiger

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Vor vier Wochen hat der Genfer Automobil-alon seine Pforten geschlossen. Er dürfte wohl die einzige derartige Veranstaltung der Welt sein, die es gestattet, auf Grund der ausgestellten Automobilmodelle eine Art technisches Fazit festzulegen, denn hier auf Schweizer Boden, einem Land ohne eigene Personenwagenproduktion, ohne Diskriminierungen und Ressentiments, ist bekanntlich ein echter Markt vorhanden; hier können nur Fahrzeuge bestehen, die jeder Kritik standhalten; hier gibt es auch echte Preise, die einen internationalen Vergleich zulassen. Alljährlich schreibt die „Automobil Revue“, Bern, in einem Rückblick auf den Salon über die Entwicklung des Automobils im letzten Jahr und registriert seit eineinhalb Jahrzehnten in Tabellenform die prozentuellen Anteile der verschiedenen Antriebsarten, der Karosserieformen, der Getriebekonstruktionen usw. Da die Genfer Autoschau schon immer ihre internationale Stellung eingenommen hat, bieten diese Tabellen tatsächlich ein Spiegelbild der Entwicklung in der ganzen Welt, um so mehr, als auch in jüngster Zeit Fahrzeuge aus dem Fernen Osten regelmäßig ausgestellt wurden. Als neuer Faktor auch auf technischem Gebiet tritt neben Europa und Amerika nunmehr auch die japanische Autoindustrie ins Blickfeld. Dieses Land hat innerhalb von wenigen Jahren gewaltig aufgeholt; es verfügt auch über eine lückenlose Zubehörindustrie und hat etwa in der Entwicklung des Rotationskolbenmotors von Wankel größere Fortschritte als andere Länder gemacht. Auf bestimmten Märkten (Ferner Osten und vielleicht auch der Westen Nordamerikas) ist die japanische Konkurrenz bereits spürbar.

Die Entwicklung des Autos in den USA ist recht befremdend und widerspricht In manchem den Prognosen von Fachleuten aus früheren Jahren: Das PS-Rennen geht nämlich weiter; Motoren von mehr als 400 PS beweisen das; dafür aber scheint der Zug zum kompakten Fahrzeug abgestoppt zu sein; man wendet sich wieder den größeren Straßenkreuzern zu; die Kompakten verlieren mit wenigen Ausnahmen an Boden.

Während der amerikanische Automobilbau eine deutliche Standardisierung der Konzeption aufweist, unterscheiden sich die europäischen Fahrzeuge durch stark divergierende Merkmale. Bei uns wird ferner die raumsparende Anordnung des Antriebaggregates quer zur Fahrbahn sowohl 'bei Heckmotorfahrzeugen als auch ganz besonders bei Frontantriebskonstruktionen forciert. Weiter ist das Bestreben auffallend, moderne Fahrzeuge mit wirksameren. Bremsanlagen auszurüsten, wobei die Scheibenbremse vorrückt und bereits bis zur unteren Preisklasse vorgedrungen ist. Bedienungserleichterungen, automatische Kraftübertragungen, Vollsynchrongetriebe, neue Kupplungen, Brems- und Lenkhilfen der verschiedensten Art gestalten neuerdings den europäischen Automobilbau ungemein reichhaltig. Das Angebot der Fahrzeugtypen hat sich daher gegenüber dem Vorjahr weiter vergrößert. Allerdings muß festgestellt werden, daß zahlreiche Firmen unter Verwendung des gleichen Chassisrahmens oder Aufbaues Fahrzeugtypen auf den Markt bringen, deren Karosserien, Innenausstattungen, Antriebsaggregate oder Radaufhängungen mehr oder weniger identisch sind, dem Nichtfachmann jedoch wegen der unterschiedlichen Bezeichnungen oder infolge anderen Chromschmucks als grundverschiedene Modelle erscheinen. In Europa betrifft dies beispielsweise die BMC, Rootes, Fiat und Opel. Noch weiter gehen die Amerikaner, die für ihre Modelle manchmal die gleiche Rohkarosserie verwenden und nur die Front- oder Heckpartie ändern.

Was die Antriebsarten anbelangt, überwiegt, prozentuell gesehen, sowohl in Amerika (mit Ausnahme des Chevrolet Corvair) als auch in Europa die Standardbauweise (vorne liegender Motor, Antrieb der Hinterräder), doch gewinnt neben dem Heckmotor der Frontantriebswagen zusehends an Bedeutung, was zum Beispiel durch den neuen R 16 von Renault dokumentiert wird. Die gewissen Nachteile des Heckfahrzeugs (Ubersteuerungstendenz, wenig Gepäckraum) werden immer mehr und mehr ausgemerzt; durch geschickte Wahl der Hinterachsgeometrie läßt sich bereits ein neutrales Kurvenverhalten erreichen und auch bezüglich der Raumaufteilung gibt es Fortschritte.

Die Verdichtungsverhältnisse gehen ständig in die Höhe; moderne Motoren haben heute Kompressionen von 9:1, in den USA sogar auch 13:1. Hand in Hand mit dieser Entwicklung sei auf die zunehmende Verwendung der obenliegenden Nockenwelle hingewiesen; Hochleistungsfahrzeuge italienischer und englischer Provenienz haben sogar zwei obenliegende Nockenwellen. Auch die V-Anord-nung des Motors gewinnt nicht nur durch die Verbreitung in den USA (dort sind V-8-Moto-ren gang und gäbe), sondern auch durch verschiedene Vertreter dieser Bauart in Europa an Boden. Einige Italiener, wie Lancia, haben dieser Bauart schon immer gehuldigt; nunmehr ist Ford mit den Kölner Taunus-Typen ein weiterer bedeutender Vertreter dieser Richtung geworden. Bei den Schaltgetrieben und Getriebeautomaten ist die Entwicklung recht uneinheitlich. In Amerika kam man vom Hydramatic zum Turbo-Hydramatic, von der Drehzahlwandlung zum Drehmomentwandler; in Europa kann man sich allerdings infolge der großen Verschiedenheiten in den Motor-größen zu einer“ einheitlichen Linie nicht durchringen. Während sich also in den USA der Wettkampf zwischen dem mechanischen Schaltgetriebe und der automatischen Kraftübertragung eindeutig zugunsten der letzteren entschieden hat (so verwenden etwa die großen Modelle von Pontiac und Oldsmobile denselben Drehmomentwandler mit verstellbaren Leitschaufeln wie Cadillac), geht die europäische Automobilindustrie verschiedene Wege. Aus finanziellen und technischen Erwägungen heraus dürfte im mittelgroßen und kleinen Wagen das herkömmliche Drei- bis Vierganggetriebe weiter vorherrschen. Wie allerdings die vielen in Entwicklung befindlichen Getriebeautomaten beweisen, liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, daß auch in dieser Fahrzeugkategorie automatische Kraftübertragungen Fuß fassen werden. Interessant ist übrigens die Tendenz, das konventionelle Kupplungsaggregat mit Schraubenfedern durch Federscheibenkupplungen zu ersetzen, denen neben einer leichteren Betätigung eine drehzahlunabhängige Federcharakteristik eigen ist. Stark ist übrigens der Zug zum Vierganggetriebe mit Mittelschalthebel, obwohl die Lenkradschaltung speziell in letzter Zeit sehr präzise geworden ist.

\ Im Fahrgestellbau findet heute die Einzelradaufhängung für die Vorderräder allgemein Anwendung, bei den Hinterrädern jedoch divergieren die Lösungen stark. Wir haben bereits auf die Bemühungen hingewiesen, das Fahrverhalten aller Fahrzeuge — auch jener mit Heckmotor — möglichst neutral zu gestalten, indem der Eigenlenkeffekt der angetriebenen Hinterachse unter Kontrolle gehalten wird, was allerdings oft einen großen Aufwand kostet. Unverkennbar ist eine allmähliche Abkehr von der hinteren Starrachse mit Halbelliptikfedern sowie von der einfach konzipierten Pendelachse, wogegen die hintere Einzelradaufhängung mit Dreiecklenkern und Doppelgelenkwellen (zum Beispiel Fiat 850) immer stärkere Verbreitung findet. Die Bremsen werden immer leistungsfähiger; merkwürdig ist, daß die Scheibenbremsen in den USA nicht nur spät, sondern auch zaghaft Eingang findet. Stark im Zunehmen begriffen ist das Zweikreisbremssystem (in Österreich hat diesbezüglich die ÖAF Pionierarbeit geleistet) mit getrennten hydraulischen Bremsleitungen für die beiden Fahrzeugachsen. Bremshilfen, Bremskraftbegrenzer und Antiblockiereinr.ichtungen sind in diesem Zusammenhang zur Verbesserung der äußeren Sicherheit von Automobilen hervorzuheben, dagegen ist bisher noch außerordentlich viel für die innere Sicherheit versäumt worden. Obwohl die Industrie genau weiß, durch welche Vorkehrungen die Unfallfolgen für die Insassen von Fahrzeugen gemildert werden können (etwa durch differenzierte Bauweise der Karosserie, extrem kurze Lenksäulen, entsprechende Anordnung der Armaturenbretter), kann sie sich zu diesen Maßnahmen aus Kostengründen nur schwer entschließen; die Folge dieses Zögerns sind Prozesse in aller Welt, die der Industrie von Personen angehängt werden, welche sich durch nachweisbar auf mangelhafte Konstruktion zurückzuführende Unfälle geschädigt fühlen. Diese Prozesse könnten einmal die Industrie viel Geld kosten.

Bei den Karosserien ist ein Stilwandel eingetreten. Der neue Renault 16 ist ein Musterbelspiel dafür, wie günstig der aus den USA kommende Stationswagen die europäischen Aufbauten beeinflußt. Ein Mittelding zwischen Limousine und Kombi, der „Mehrzweckaufbau“, entsteht, die fünftürige Karosserie. Sonst lautet die Devise: Kurze vordere und hintere Überhänge, längerer Passagierraum (BMC) zwischen den Achsen, mehr Kopf- und Beinfreiheit, betonte, meist niedrigere Gürtellinie und Doppeltrapezform (Opel), knappe Radkasten, breitere Deckel für Motorraum und Koffer, engere Kotflügel, Pagodendächer (Mercedes, Renault). Wie kleine Veränderungen den ästhetischen Eindruck verbessern können, beweist die Fiat-Variante 850 als Coupe.

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