Tuam - © Foto: picturedesk.com / Reuters / Clodagh Kilcoyne

Unverheiratete Mütter und die Irisch-klerikale Quälmaschinerie

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Über 70 Jahre vergriffen sich der irische Staat und die katholische Kirche an unverheirateten Müttern. Sie wurden weggesperrt, misshandelt, missbraucht, ihre Kinder dem Tod überlassen. Ein schockierender Bericht bringt massenhafte Gräuel zum Vorschein.

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Über 70 Jahre vergriffen sich der irische Staat und die katholische Kirche an unverheirateten Müttern. Sie wurden weggesperrt, misshandelt, missbraucht, ihre Kinder dem Tod überlassen. Ein schockierender Bericht bringt massenhafte Gräuel zum Vorschein.

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Die Irish Mail on Sunday titelte am 25. Mai 2014: „800 Babyleichen in Massengrab gefunden“. Der Artikel zitierte die Lokalhistorikerin Catherine Corless, die die Geschichte des Mutter-Kind-Heims in ihrer Heimatstadt Tuam in der Grafschaft Galway erforschte. In einem ausgelassenen Wassertank hatte Corless die Leichen von 796 Neugeborenen gefunden. Das Heim in Tuam wurde vom katholischen Orden der Bon-Secours-Schwestern betrieben. Es gehörte zu einem Netzwerk von Mutter-Kind-Heimen, die von 1922 bis 1998 vom Staat und der katholischen Kirche geführt wurden. Die Regierung setzte 2015 eine Untersuchungskommission ein, deren 3000-seitiger Bericht Anfang des Jahres veröffentlicht wurde. Er beschreibt ein System, in dem unverheiratete Schwangere in menschenfeindlichen Bedingungen gehalten wurden. Durch die Misshandlungen und Vernachlässigungen starben tausende Neugeborene, die in „Engelsfriedhöfen“ auf den Grundstücken der Heime verscharrt wurden. Jene Babys, die überlebten, wurden von der Kirche gewinnbringend verkauft.

In einem 2018 erschienen Buch nennt der Überlebende Paul Redmond das System eine „Adoptionsmaschinerie“. Im Vorwort schreibt die irische EU-Abgeordnete Clare Daly: „Durch zumeist illegale Adoptionen von Babys an wohlhabende katholische Paare in Irland, Großbritannien und den USA entstand eine florierende Industrie, die religiösen Orden enorme Summen an Geld bescherte.“ Der nun erschienene Bericht basiert auf über 1000 Aussagen von Überlebenden und offenbart auf erschreckende Weise dieses unmenschliche System. Eine Frau berichtet: „Ich hatte so viel Angst, dass ich jede Nacht in mein Bett gemacht habe. Am Morgen haben mich die Nonnen geschlagen und an den Ohren ins Bad gezerrt.“

Unfassbare Zustände

Nach der Unabhängigkeit des Süden Irlands 1922 begann der Staat gemeinsam mit der katholischen Kirche ein Netzwerk von Heimen aufzubauen. Darin wurden unverheiratete Schwangere von der Gesellschaft weggesperrt. Eine Überlebende erzählt: „Die Nonne sagte zu mir, dass mich Gott nicht will, ich bin Dreck.“ Ein Großteil der Neugeborenen starb an Unterernährung, Krankheiten und Misshandlungen. Die überlebenden Kinder wurden den Müttern weggenommen und zur Adoption freigegeben. Die Heime wurden erst 1998 geschlossen. In den 76 Jahren wurden 56.000 Mütter in die Heime gebracht, in denen sie 57.000 Kinder auf die Welt brachten. Die durchschnittliche Sterberate der Babys war 15 Prozent, 9000 Kinder überlebten die Heime nicht. Am höchsten war die Sterberate in den 1940er Jahren. Damals überlebten nur 40 Prozent der Neugeborenen ihr erstes Lebensjahr. Die meisten Babys starben an Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Entzündungen.

Die Mehrzahl der Frauen wurde in den 1960er und frühen 1970er Jahren in die Heime eingewiesen. Sie wurden misshandelt und sexuell missbraucht. Viele entwickelten dadurch lebenslange psychische Krankheiten. Nach der Veröffentlichung des Berichts entschuldigte sich der höchste katholische Geistliche Irlands, Eamon Martin, Erzbischof von Armagh, im Namen der Kirche bei den Opfern und Hinterbliebenen für das erlittene Unrecht. Auch der Regierungschef Micheál Martin entschuldigte sich im Parlament. Er betonte, dass die irische Gesellschaft dieses System zugelassen hatte: „Wir alle sind dafür verantwortlich.“

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