Unverwirklichte Möglichkeiten

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Das jüngste Hobby der Historiker heißt Virtuelle Geschichte

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Das jüngste Hobby der Historiker heißt Virtuelle Geschichte

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Wie sähe die Welt aus, wenn Annie Oakley an jenem kalten Novembertag des Jahres 1889 in Berlin mit ihrem 45er Colt dem jungen Kaiser Wilhelm nicht die Asche von der Zigarre, sondern ein Loch in den Kopf geschossen hätte? Vielleicht hätte die Welt nie etwas von einem Mann gehört, der ein halbes Jahr vor Annies Berliner Auftritt in Braunau geboren wurde und Adolf Hitler hieß. Annie Oakley hatte am Abend zuvor etwas mehr Whisky getrunken, als sie in Buffalo Bills Wildwest-Show die Frage ans Publikum richtete, ob einer der Herren Lust hätte, sich von einer Kugel aus ihrem Colt die Asche von der Zigarre fegen zu lassen. Natürlich würde wie immer ihr Mann den Kopf hinhalten. Aber als der Kaiser aus der Hofloge sprang und die entsetzt herbeistürzenden Polizisten zurückscheuchte, gab es keinen Rückzieher. Der Kunstschützin strömte der Angstschweiß unter der Ledermontur über den Rücken.

Wilhelm war ein sprunghafter, unberechenbarer, etwas verkorkster Typ, wie schon diese Episode zeigt. Hätte Annie im entscheidenden Moment gezittert, wäre es vielleicht nie zum deutschen, von den Briten als Affront empfundenen Flottenbauprogramm gekommen. Dieses wiederum war ein Meilenstein auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg. Und ohne ersten Weltkrieg kein "Führer". Annie Oakley schrieb übrigens im Krieg dem deutschen Kaiser einen Brief, in dem sie ihn um einen zweiten Schuss bat.

Die einst so verpönte Frage "Was wäre gewesen, wenn?" ist derzeit unter dem Etikett "virtuelle Geschichte" sehr populär. Auf dem Campus der englischen und amerikanischen Universitäten wird darüber diskutiert, in welcher Sprache man heute in Nordamerika beten würde, wenn Gott keinen Sturm geschickt und die stolze spanische Armada nicht in alle Winde verblasen hätte. Ohne Gottes Hilfe wären die Briten mit den Spaniern nicht leicht fertig geworden, zumal die Befestigungen ihrer Städte kaum geeignet waren, solchen Belagerern ernsthaft zu trotzen.

Cortes und der PC Wenn also heute ein Buchherausgeber oder der Chefredakteur einer Fachzeitschrift einen Professor um einen einschlägigen Beitrag bittet, greift dieser fast immer gerne zur Feder beziehungsweise setzt sich an seinen Computer, der vielleicht noch gar nicht erfunden worden wäre, wenn nicht ein unbekannter spanischer Soldat sein Leben geopfert hätte, wodurch Hernan Cortes knapp mit seinem davonkam. Anderenfalls wäre es vielleicht mit der Kolonisierung Südamerikas für längere Zeit Essig gewesen. Hätte das starke indianische Reich, dessen Errichtung dann durchaus wahrscheinlich gewesen wäre, die Eroberung Nordamerikas verzögert? Wären die USA entstanden? Hätten, wenn ja, die starken Impulse, die sie der industriellen Entwicklung gaben, schon zum PC geführt oder müsste der Autor des Beitrags über virtuelle Geschichte noch auf dessen Erfindung warten?

Angesichts so kühner Gedankenflüge ist es wohl kein Wunder, wenn binnen kurzer Zeit gleich mehrere Was-wäre-gewesen-wenn-Bücher erschienen. Ein besonders unterhaltsames heißt auch so: "Was wäre gewesen, wenn?" Hier finden wir die Story von Annie Oakley und viele andere Wendepunkte, mögliche Wendepunkte oder Beinahe-Wendepunkte der Geschichte. Beim Tod des Mongolen-Khans, beim Tod Alexanders, beim glatten Ablauf der alliierten Invasion in Frankreich und vielen anderen Gelegenheiten hätte alles auch ganz anders hätte kommen können, und zwar mit nachhaltigen Folgen für die Gegenwart. Herausgeber Robert Cowley ist Chefredakteur des "Quarterly Journal of Military History" und seine Autoren sind durch die Bank angesehene Gelehrte des angelsächsischen Raumes.

Vielleicht schreiben sie und ihre Kollegen nicht zuletzt auch deshalb so gern über virtuelle Geschichte, weil hier nichts nachprüfbar ist. Egal, ob nun gefragt wird, ob Alexander der Große China erobert hätte und Europa buddhistisch statt christlich geworden wäre, wenn Alexander alt geworden wäre, statt mit 32 Jahren in der Fremde auf zufällige Weise draufzugehen. Oder ob die erste Atombombe auf Dresden gefallen wäre, wenn die vorausgesagte und für die Invasion in der Normandie unentbehrliche kurze Wetterbesserung, das berühmte Fenster, am 6. Juni 1944 nicht eingetroffen wäre. Oder wie Europa möglicherweise aussähe, hätte nicht mitten in ihrem Siegeszug der plötzliche Tod ihres Khans die Mongolen gezwungen, sofort nach Hause zu reiten, um einen neuen Khan zu wählen. Wie es so geht, wenn große Pläne kurz einmal aufs Eis gelegt werden - die Mongolen kamen nie wieder.

Aber: Hätten sich die Mongolen ohne den Tod ihres hochbefähigten, human denkenden, aber meist besoffenen Khans nach Süden gewendet und Rom zerstört? Hätte es dann einen Leonardo und einen Michelangelo gegeben? Oder wären sie nach Osten weiter marschiert, hätte Paris dran glauben müssen und das Hochmittelalter samt der Hochgotik wäre heute bestenfalls ein origineller Einfall im Ideendschungel der virtuellen Geschichte? Das Mongolenheer galt nämlich dank seiner straffen Organisation und seinen Bogenschützen als unbesiegbar.

Im übrigen ist das Was-wäre-gewesen-wenn-Spiel ganz und gar nicht müßig. Es hilft allen, die sich darauf einlassen, das Bestehende niemals für das einzig Mögliche zu halten und Geschichte als einen offenen Prozess zu begreifen. Es schärft den Blick für Alternativen in entscheidenden Situationen. Um sich nicht in Gedankenspielen zu verlieren, muss man sich freilich immer an Alternativen halten, die, auch wenn sie nicht eingetreten sind, jedenfalls möglich waren.

Robert Cowley gibt eine Militärzeitschrift heraus und auch die Autoren seines Buches über virtuelle Geschichte sind vor allem Militärwissenschaftler. Im Vordergrund ihrer Betrachtungen stehen Kriegszüge und Schlachten, die auch anders hätten ausgehen können. Zu den geschichtsmächtigen Zufällen, die mitunter alles ganz anders kommen ließen, zählen unvermittelt auftretende Krankheiten, die so manches starke Heer dahinschmelzen ließen.

Gegen Determinismus Weniger unterhaltsam, dafür aber ungemütlich zeitnah, sind einige Alternativen, die uns erspart blieben und im von Niall Ferguson herausgegebenen Werk "Virtuelle Geschichte - Historische Alternativen im 20. Jahrhundert", ebenfalls von angesehenen Historikern, untersucht werden: Wie sähe die Welt aus, wenn sich England aus dem Ersten Weltkrieg herausgehalten hätte? Wenn Kennedy das Attentat überlebt hätte? Wenn der Kommunismus nicht zusammengebrochen wäre? Für Ferguson ist virtuelle Geschichtsforschung eine Vorbeugung gegen das weit verbreitete deterministische Denken. Auch das berühmt-berüchtigte Szenario "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte" wird hier in verschiedenen Versionen durchgespielt. Freilich nicht in meiner Lieblingsversion: Nazideutschland siegt, geht aber daran zugrunde, dass es die Welt ausraubt und daher nicht mehr selbst zu produzieren braucht. Gut denkbar, dass sein Niedergang um die gleiche Zeit und auf ähnliche Weise geendet hätte wie jener der DDR. Bloß hätten es in so einem Nazi-Deutschland viele jener Leute zu etwas gebracht, die es auch im realen Deutschland zu etwas brachten, und vielleicht hätten diese virtuellen Anpasser die virtuellen Kurven erfolgreicher gekratzt als die Häuptlinge der DDR. Irgendwann könnte die virtuelle Geschichte jedenfalls in ähnliche Bahnen einschwenken wie jene, in denen sich die Geschichte nun auch so bewegt.

Ein Gesichtspunkt geht ja in beiden Büchern unter: Wie offen ist Geschichte? Wenn man davon spricht, dass alles "ganz anders" hätte kommen können, drängt sich doch die Frage auf, wie "ganz anders" es kommen konnte. Jede Entwicklung kann verzögert werden. Aber sind "verpasste" historische Weichenstellungen denkbar, welche die Entstehung der Naturwissenschaft und der Industriegesellschaft hätten verhindern können? Ist Geschichte reines Zufallsprodukt? Oder gleicht sie einem Fluss, den man lokal ablenken, aber nicht aufhalten und nicht daran hindern kann, in den nächstgrößeren Fluss und schließlich ins Meer zu münden?

Auch die Frage, ob die technische Revolution nicht einige Jahrhunderte früher möglich gewesen wäre, wird nicht gestellt. So, wie es schließlich gekommen ist, waren ja in Europa auch starke fortschrittshemmende, retardierende Kräfte am Werk, "Fortschritt" in aller Ambivalenz gesagt.

Ein weiteres Buch heißt sogar "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte" und stammt von Ralph Giordano, wird hier aber außer Konkurrenz erwähnt. Denn es ist schon etwas dubios, wenn sich in einem Taschenbuch kein Hinweis findet, dass es sich um eine Neuauflage handelt, so dass der dies wissende Leser auch nicht erkennen kann, ob das Werk aktualisiert wurde. Auch handelt es nicht von virtueller Geschichte im strengen Wortsinn, sondern behandelt "Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg", die zum Glück Papier blieben. Köstlich, wie Hitler das Hakenkreuz in den Krallen eines Adlers an der Spitze der geplanten 290 Meter hohen Kuppelhalle durch eine Weltkugel ersetzt. Giordano behandelt auch Len Deightons Roman "SS-GB", in dem Hitler England besetzt hat und als Geste an die sowjetischen Verbündeten, die er nicht überfallen hat, die sterblichen Überreste Karl Marx' auf Moskaus Roten Platz überführen lässt: Auch das ist virtuelle Geschichte, literarisch, aber at it's best.

Was wäre gewesen, wenn? Wendepunkte der Weltgeschichte.

Von Robert Cowley (Hg.) Knaur Verlag, München 2000. 400 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,15 Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert.

Von Niall Ferguson (Hg.) 410 Seiten, geb., öS 423,-/e 30,74 Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg.

Von Ralph Giordano. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 384 Seiten, Tb., öS 182.-/e 13,23

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