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Uralte Bindungen

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Die englischen wie die französischen Untersuchungen zeigen, wie falsch eine der weitestverbreiteten Ansichten über die Demokratie im Grunde genommen ist. Die Ansicht nämlich, daß es sich hier um eine labile Staatsform handle, daß breite Wählermassen von Augenblickslaunen beeinflußt ihre Entscheidungen treffen, kurz, daß „gewachsene“ politische Institutionen durch ein System der Wurzellosigkeit und arithmetische Zufälle ersetzt wurden. Wie die Arbeit „Politics in the North West“ („The British Journal of Sociology“, Nr. 3) recht deutlich zeigt, lassen sich im Elek-torat gewisse Tendenzen durch Generationen verfolgen, bei an sich gleichen sozialen Voraussetzungen gibt es konservative „Inseln“, die weder von der liberalen noch von der sozialistischen Flut überwunden werden konnten. „Times Literary Supplement“ bemerkte zu dem Phänomen des besonders vitalen Konservativismus im Nordwesten des Landes: „In der Tat geht der eigenartige Konservativismus hier viel weiter zurück als bis 1867, bis Reformation und Bürgerkrieg nämlich, bis zu den Jacobiten und den Tories des 18. Jahrhunderts.“ Andere Beobachter sind sogar der Meinung, daß Gebiete mit stark keltischem Einfluß ebenfalls meist konservativ wählen. Jedenfalls wird, wenn man so alte Bindungen regionaler Art ins Kalkül zieht, die Erscheinung verständlicher, daß ausgesprochene Slumgebiete bei beinahe jeder Generalwahl Tories nach Westminster entsandten. Es ist nun selbstverständlich nicht so, daß solche traditionellen und emotionellen Bindungen die Klasseninter-

essen ausschalten, sie ergänzen und beeinflussen sie jedoch.

über die Beziehungen zwischen sozialer Position und politischer Meinung hat das „British Institute of Public Opinion“ zusammen mit der „London School of Eco-nomics“ eine Arbeit veröffentlicht, die das Wahlresultat von Greenwich im Jahre 1950 zur Grundlage hatte. Hier berücksichtigte man erstmalig nicht mehr den objektiven gesellschaftlichen Zustand eines bestimmten Wählers, sondern auch den politisch beinahe ebenso wichtigen subjektiven, das heißt man stellte zuerst fest, welcher Klasse ein Wähler allen objektiven Anzeichen nach angehöre, und erforschte dann, in welche Klasse sich der Betreffende selbst eingereiht hätte. Hiebei stellte sich heraus, daß viele Menschen, die de facto der Arbeiterklasse angehören, sich dem Mittelstand zuzählten, während Angehörige des Mittelstandes wieder dazu neigten, sich als Arbeiter zu klassifizieren. Es erwies sich dabei, daß nicht der tatsächliche Zustand, sondern die mehr oder weniger willkürliche Interpretation desselben das politische Verhalten entscheidet. Hier einige Ziffern des Greenwicher Beispiels: Von den konservativen Wählern hatten nur 41 Prozent „gehobene“ Berufe, während sich 59 Prozent in den Mittelstand einreihten. Von 474 Wählern, die sich jedoch zur Arbeiterklasse zählten, de facto aber bereits teilweise das Mittelstandsniveau erreicht hatten, wählten 356 Labour, nur 105 konservativ und 13 liberal.

Dieses Phänomen — das politische Verhalten wird nicht durch den Status, son-

dem dessen individuelle Interpretation bestimmt — kennt man natürlich empirisch auch in anderen Ländern. Unerforscht blieb bisher die Frage, wie lange sich dieser Zustand erhält. In Ländern mit ruhigem politischem Klima und allmählichen Veränderungen wahrscheinlich durch Generationen, in Gebieten starker traumatischer Ereignisse viel kürzer. Gewisse Anzeichen weisen darauf hin, daß die „versäumte Zeit“ jedoch später durch plötzlichen politischen Radikalismus nachgeholt wird. Es wäre interessant, die Geschichte und Familiengeschichte bedeutender Radikaler daraufhin zu prüfen. Aneurin Bevan, der Labourrebell, dessen Radikalismus keine administrative Großaufgabe sordinieren konnte, stammt bei-spielsweiseaus bäuerlich-frommen, wahrscheinlich konservativen Schichten, die durch den Niedergang der Schafzucht in die Stadt getrieben wurden. Es wäre also hier eine „politische Zeitzünderfunktion“ möglich.

Es ergibt sich nun die weitere Frage, welcher Hundertsatz der Wähler deshalb in ein politisches Lager kommt, weil er sich von diesem Lager die beste Vertretung der Klasseninteressen verspricht. Wäre dies in der Regel der Fall, so hätten die Konservativen nur wenig Chancen; die Labour Party ist ja die einzige Partei, die mit einer einzigen Schicht, der der Arbeiter, die Mehrheit erzielen könnte. Hier zeigt die Greenwicher Untersuchung jedoch, daß eine bestimmte Anzahl von Wählern nicht sozialistisch wählt, obwohl sie sich als Arbeiter fühlen und obwohl sie der Ansicht sind, daß die Sozialisten ihre Klasseninteressen am nachdrücklichsten vertreten würden. Von 105 Arbeitern (wieder nach eigener Klassifizierung), die konservativ gewählt hatten, waren 24 trotzdem der Meinung, daß Labour ihre Interessen besser wahrnehme als die Tories. Es fällt hier natürlich auf, daß die

Zahl der Befragten zu gering ist, um gültige Schlüsse zu ziehen, man wird also auf weiteres Material warten müssen. Anhaltspunkte aus verschiedenen Wahlkreisen liegen über die Frage vor, ob sich die Wähler nach den Zielen der Partei oder nach den Methoden, die diesen Zielen zustreben, orientieren. Hier dominieren ganz offensichtlich die Ziele, die man im Falle der Labour Party unter „Gerechtere Verteilung des Einkommens“, „Vollbeschäftigung“ und „öffentliche Kontrolle der Großindustrie“ schlagwortartig zusammenfassen könnte, während die Methoden durch die Worte „Nationalisierung“, „Staatshandel“, „Wirtschaftskontrollen“ und „Gewerkschaftsmonopol“ zusammengefaßt werden könnten. Es erwies sich nun, daß nur 10 bis 20 Prozent des Mittelstandes mit diesen Methoden einverstanden waren, daß zwar bei den Arbeitern die Zustimmung auf 30 Prozent anstieg, bei den arbeitenden Frauen der Beifall jedoch stellenweise auf 17 Prozent absank, kurz, daß die arbeitenden Frauen, im Gegensatz zu den Männern, die sozialistischen Methoden ähnlich ablehnen wie der Mittelstand. Es erscheint uns hier der Ausdruck „working woman“ im übrigen ein wenig verschwommen; man würde zunächst meinen, daß sich der Terminus nur auf jene Frauen bezieht, die selbst in der Industrie tätig sind, dann müßte man aber noch die Meinung der Arbeiterfrauen erforschen, das heißt jener Frauen, die, mit Industriearbeitern verheiratet, die Sorgen für Haushalt und Kinder zu tragen haben.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die britischen Sozialisten, wären sie 1950 nicht nach den Zielen, sondern nach den Mitteln beurteilt worden, keine Parlamentsmehrheit hätten erringen können, während so die 13,25 Millionen sozialistischer Stimmen ausreichten, um gegenüber den 15 Millionen nichtsozialistischer, aber gespaltener Stimmen eine Labour-Regierung am Ruder zu halten, deren knappe Mehrheit jedoch keine eigentlich revolutionären Maßnahmen zuläßt. Maßnahmen, die im Zeichen einer neuen Großrüstung ohnedies nicht mehr möglich gewesen wären.

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