Vater, wir haben den KRIEG VERLOREN

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am 9. Mai feiert Russland den tag des sieges über Hitler-Deutschland. Der schriftsteller Michail schischkin wird nicht bei jenen sein, die jubeln. Ein Essay in trauer um die Heimat.

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am 9. Mai feiert Russland den tag des sieges über Hitler-Deutschland. Der schriftsteller Michail schischkin wird nicht bei jenen sein, die jubeln. Ein Essay in trauer um die Heimat.

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Mein Vater meldete sich freiwillig mit 18 Jahren. Er diente auf einem U-Boot in der Ostsee. Als ich klein war, wohnten wir in einem Keller auf der bekannten Moskauer Arbat-Straße, über meinem Bettchen hing ein Foto seines U-Boots. Ich war furchtbar stolz, dass mein Vater ein U-Boot hatte, immerzu zeichnete ich das Foto in meinem Schulheft ab. Jedes Jahr zum Tag des Sieges am 9. Mai holte Vater seine Matrosenuniform aus dem Schrank - die er wegen seines wachsenden Bauchs regelmäßig umnähen ließ - und setzte alle seine Orden darauf. Es war so wichtig für mich, stolz auf meinen Vater zu sein. Es hat einen Krieg gegeben, und Papa hat ihn gewonnen!

Als Erwachsener verstand ich, dass mein Vater 1944 bis 1945 deutsche Schiffe versenkte, die Flüchtlinge aus Riga und Tallinn evakuierten. Hunderte, wenn nicht tausende Menschen fanden in der Ostsee den Tod. Dafür bekam Vater seine Orden. Ich bin lange nicht mehr stolz auf ihn, verurteile ihn aber nicht. Es herrschte Krieg.

Nach dem Krieg trank er. Genau wie alle seine Kameraden von der U-Boot-Flotte. Vermutlich konnten sie nicht anders. Er war doch noch ein Junge, als er monatelang im Einsatz auf hoher See war, in ständiger Angst, in einem eisernen Sarg unterzugehen. So etwas lässt einen nicht mehr los.

Ein Land, in dem Putin alles erreicht

Als in der Amtszeit Gorbatschows der Hunger anfing, bekam Vater als Kriegsveteran Lebensmittelrationen, darunter auch Lebensmittel aus Deutschland. Für ihn war das eine persönliche Beleidigung. Er und seine Freunde fühlten sich zeitlebens als Sieger, und nun ernährte sie der besiegte Feind. Als Vater uns das erste Mal die Lebensmittelration brachte, betrank er sich und schrie: Wir haben doch gesiegt! Dann wurde er still und weinte. In seinen letzten Jahren zerstörte er sich mit Wodka. Im Moskauer Krematorium verbrannte er in seiner Seemannsuniform.

An diesem 9. Mai, 70 Jahre nach Kriegsende, werden einige der letzten Veteranen nach der Überprüfung durch den Sicherheitsdienst auf dem Roten Platz zusammengebracht. Sie leben mittlerweile in einem Russland, in dem Putin alles erreicht hat, was ein Diktator sich wünschen kann. Das Volk liebt ihn, die Feinde fürchten ihn. Sein Regime fußt nicht auf wackligen Paragrafen der Verfassung, sondern auf unwandelbaren Gesetzen der Ergebenheit eines Vasallen zu seinem Souverän - vom Fuß der Pyramide bis nach ganz oben.

Putins Diktatur des 21. Jahrhunderts vermeidet alle Fehler ihrer Vorgänger. Die Grenzen sind offen, alle Unzufriedenen werden unzweideutig aufgefordert, das Land zu verlassen. Besonders die Elite verlässt das Land: Wissenschaftler, IT-Fachleute, Journalisten, Ingenieure, Unternehmer. Das schwächt das Land und stärkt das Regime.

Für jene, die bleiben, gibt es ein bewährtes Rezept: den Krieg. Patriotische Hysterie im Fernsehen ist die Wunderwaffe des Regimes. Dank des "Zombie-Kastens" ergibt sich für die Bevölkerung ein ideales Weltbild: Der Westen will uns vernichten. Wir sind gezwungen -wie schon unsere Großväter - einen heiligen Krieg gegen den Faschismus zu führen, bereit, alles für den Sieg zu opfern. Gegen diesen Krieg sind nur "Nationalverräter".

Unter jeder Ideologie -orthodoxes Christentum, Kommunismus, und wieder Christentum -manipulierte das Regime in Russland sein Volk mit Patriotismus. Mein Vater war sechs, als sie seinen Vater verhafteten. Mein Großvater ging im Gulag zugrunde. Der Sohn will stolz auf seinen Vater sein, doch sein Vater ist Volksfeind. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hörte das drangsalierte Volk plötzlich aus den Lautsprechern: "Brüder und Schwestern!"

Vater zog in den Krieg, um seine Heimat zu verteidigen, doch er verteidigte das Regime, das seinen Vater umbrachte. Wünscht man seiner Heimat den Sieg oder die Niederlage? Eine seltsame Frage für jemanden, der sein Vaterland liebt. Patriotismus ist Russlands heilige Kuh, die Menschenrechte und Respekt vor dem Individuum wiederkäut.

Die wichtigste russische Frage lautet: Wenn das Vaterland ein Monster ist, muss man es lieben oder hassen? Alles kommt hier zusammen, untrennbar verbunden. Vor langer Zeit formulierte es die russische Poesie folgendermaßen: "Ein Herz kann nicht lernen zu lieben, wenn es müde geworden ist zu hassen!"

Im Ukraine-Konflikt ruft man die Russen wieder in den Kampf gegen den Faschismus. Wieder einmal greift ein Diktator für seinen Machterhalt zum Patriotismus. Hysterisch prasselt es von den Bildschirmen herab. Die Rede ist vom "großen Russland", von der "Rückkehr der russischen Erde", dem "Schutz der russischen Sprache", oder dem "Sammeln der russischen Welt". Und immer wieder lautet der Appell: "Lasst uns die Welt vor dem Faschismus retten."

Mit der Liebe zum Vaterland köderten alle Regime die Menschen, und sie werden es weiterhin tun. Wieder einmal ruft eine Diktatur ihre Untertanen zum Verteidigungskampf auf, um sich selbst zu schützen. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wird dabei gnadenlos ausgenutzt. Sie stahlen meinem eigenen Volk das Erdöl, sie stahlen die Wahlen, sie stahlen das Land. Und sie stahlen den Sieg.

Die Geschichte wird wieder einmal umgeschrieben, es bleiben nur der militärische Ruhm und die großen Siege. Das ruhmreiche Zurückholen der Krim steht schon als Kapitel in den Geschichtsbüchern. Das nächste Kapitel wartet darauf, geschrieben zu werden: Wie der verlorene Sohn kriecht Kiew auf Knien zurück in die Umarmung der russische Welt.

Die unverzeihliche Niedertracht

Russen und Ukrainer aufeinander zu hetzen, das ist eine unverzeihliche Niedertracht. Mein Vater war Russe, meine Mutter Ukrainerin. Manchmal denke ich: Gut, dass sie schon tot sind und nicht wissen, dass Russen und Ukrainer einander morden. Die Annexion der Krim brachte Putin eine Patriotismuswelle. Weil diese Welle bereits abebbt, wird er eine neue brauchen. Die Diktatur braucht nicht einzelne Kampfhandlungen, sie braucht den Kriegszustand. Das Schlimmste steht uns deshalb noch bevor. Der 9. Mai in Putins Russland hat nichts mit dem Sieg des Volkes zu tun, dem Sieg meines Vaters. Es ist kein Tag des Friedens und des Gedenkens an die Opfer. Es ein Tag des Krieges, ein Tag der geheimen Leichentransporte, ein Tag der großen Lüge und der großen Niedertracht.

Natürlich wünsche ich meiner Heimat den Sieg. Aber was wird dieser Sieg sein? Jeder Sieg Hitlers war eine Niederlage für das deutsche Volk. Der Fall Nazi-Deutschlands wiederum war ein großer Sieg für die Deutschen selbst. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zeigten sie, wie ein Volk wiederauferstehen und leben kann -ohne Fieberträume vom Krieg. Russland dagegen ist vor unseren Augen aus dem 21. Jahrhundert ins Mittelalter zurückgefallen. Es ist unmöglich, in einem Land durchzuatmen, wo die Luft mit Hass verpestet ist. Auf den großen Hass folgte in der Geschichte immer das große Blut. Was erwartet mein Land?

Vater, den Krieg haben wir verloren.

Der Autor ist Schriftsteller in Moskau und Berlin. Sein Text wurde von Pavel Lokshin ins Deutsche übersetzt.

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