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Venezuelas Reformprasident

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Am 15. März trat der neugewählte venezolanische Präsident Rafael Caldera sein Amt an. Er ist Anfang Fünfzig, Anwalt, Universitätsprofessor für Arbeitsrecht und unbestrittenes Idol der „COPEI“ („Comite de Organizaciön politica electoral inde-pendiente“, das heißt „Komitee für unabhängige wahlpolitische Organisation“), wie der komplizierte Name der christlichdemokratischen Partei Venezuelas lautet.

Seiner Amtsperiode sehen viele mit größter Skepsis entgegen. Das beruht zunächst darauf, daß er mit noch nicht 30 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt wurde. Er sieht sich also gezwungen, eine Koalition zu bilden, um im Parlament eine Mehrheit hinter sich zu haben. (Die venezolanische Verfassung von 1961 gibt dem Präsidenten nicht das Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, wohl die einzige Waffe, mit der er das parteipolitische Chaos bändigen könnte.) Nun hat die „Acciön Democrätica“ („AD“), die bisher am Ruder war — und zwar jahrelang in Partnerschaft mit der „COPEI“ — erklärt, daß sie jetzt in die Opposition übergehen wolle. Eine beachtliche Splittergruppe der „AD“, nämlich die des linksgerichteten Schriftstellers Luis Beltrdn Prieto (dessen gewaltige Ohren das Wahlsymbol seiner Partei bildeten), der „Movimiento Electoral del Pueblo“ („Wahlbewegung des Volkes“), soll an der Seite der Regierungspartei mit einer Reihe unabhängiger Abgeordneter eine prekäre Mehrheit zustande bringen. Es wird viel darüber diskutiert, ob sich Caldera etwa mit dem früheren Diktator Marcos Peres Jimenez einigen wird. Dieser hat jahrelang erst in nordamerikanischen und dann in venezolanischen Gefängnissen gesessen, nachdem er wegen grotesker Unterschlagungen von Staatsgeldern verurteilt worden war. Er ist vor kurzem nach Madrid emigriert und hatte selbst nicht damit gerechnet, bald auf die politische Bühne Venezuelas zurückkehren zu können. Aber der Kreis der seinerzeit von ihm begünstigten Beamten ist in seinen Namen mit der „Cruzada Oivica Naoionalista“ (Nationalistischer bürgerlicher Kreuzzug“) zu den Wahlen gegangen und als drittstärkste Gruppe — erstaunlicherweise auch mit vielen Stimmen junger Wähler aus den Elendsquartieren — aus ihnen hervorgegangen. Der Exdiktator ist zum Senator gewählt. Es bleibt abzuwarten, ob Caldera mit einem so kompromittierten Partner zusammenarbeiten will und kann.

Aber es ist nicht nur der unzureichende Prozentsatz von Wahlstimmen, der an der Stabilität und vor allem an der Fruchtbarkeit von Calderas Präsidentschaft Zweifel aufkommen läßt. Die „COPEI“ ist mit einem sozialreformerischen Programm in die Wahlen gegangen, das zum großen Teil von dem belgischen Jesuitenpater Roger Vekemans entworfen wurde. Dieser hervorragende linksgerichtete Soziologe, der in Santiago de Chile das „Centro par el Desarrollo Economico y Social de America Latina“ („DESAL“) — Zentrum für wirtschaftliche und soziale Entwicklung Lateinamerikas — leitet, ist auch einer der Väter der ideologischen Ausrichtung der chilenischen Christdemokraten. Er hat sich aber von dem chilenischen Präsidenten Dr. Eduardo Frei distanziert, weil dieser seinen Plan zur Strukturänderuog „verraten“ habe. Er will eine weitgehende Sozialisierung auf zahlreichen Gebieten herbeiführen, ein Programm, das von den Gegnern dar „COPEI“ faschistisch genannt wird. Die „Juventud Revolucionaria Copeiana“ („revolutionäre Jugend der ,COPEI'“) stellt eine Reihe ausgezeichneter Soziologen und Nationalökonomen für die angekündigten Strukturänderungen zur Verfügung. In der ideologischen Grundsatzerklärung der „COPEI“ wird nicht nur auf die familiären Mißstände hingewiesen — 45 Prozent der Kinder werden unehelich geboren —, sondern vor allem auf den grotesken Gegensatz zwischen reich und arm — 10 Prozent der Bevölkerung sollen 60 Prozent des Nationaleinkommens verdienen.

Nun ist aber ein wirklicher Strukturwandel durch echte Sozialreformen mehr als fraglich, weil Caldera mit Unterstützung von Kreisen gesiegt hat, die an der Aufrechterhaltung des sozialen „Status quo“ interessiert sind. Er hat einen Senats- und sieben Deputiertensitze seiner Liste der Familie Capriles als Gegenleistung für Propaganda zur Verfügung gestellt. Außer anderen monopolkapitalistischen Unternehmen verfügt diese Familie über ein umstrittenes Netz von Sendern und Presseorganen. Außerdem hat die „Fede-cämaras“ (die sehr einflußreiche Industrie- und Handelskammer) für Caldera geworben. Es zeigt sich also in Venezuela wieder das tragische Handikap für den Forschritt in Lateinamerika, daß die Strukturänderungen als Wahlslogan von denjenigen gepredigt werden, die sie aus wirtschaftlichem Gruppenegoismus in Wirklichkeit nur zu verhindern trachten

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