Verharmlosende Erzengel

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Der Erzengel Gabriel erschien mitten in der Nacht und richtete sich auf dem Budapester Freiheitsplatz ein. Das in Bronze gegossene Himmelsgeschöpf bildet das Zentrum eines Denkmals, mit dem das offizielle Ungarn der Okkupation des Landes durch die deutsche Wehrmacht vor 70 Jahren gedenkt. Das Monument war schon lange vor seiner klammheimlichen Errichtung Ziel von Demonstrationen gegen Geschichtsverfälschung.

Seit Monaten wird täglich vor der Baustelle am westlichen Ende des Szabadság tér in Budapest demonstriert. Mitglieder und Sympathisanten der jüdischen Gemeinde haben Fotos deportierter Juden und Alltagsgegenstände wie Schuhe oder Kinderspielzeug vor der Baustelle arrangiert. Sie sollen daran erinnern, dass 1944 mehr als 435.000 ungarische Juden in die Vernichtungslager verschickt wurden.

Brunnenvergifter der Geschichte

Ende Juni dirigierte der berühmte Operndirigent Adam Fischer einen Chor aus Demonstrantinnen und Demonstranten, die Schillers Ode an die Freude auf Ungarisch absangen. "Geschichtsfälschung ist geistige Brunnenvergiftung" stand auf einem Transparent hinter der kleinen Tribüne, auf der der leicht übergewichtige Musiker im Polohemd stand.

Das Denkmal stellt das von Reichsverweser Miklós Horthy autoritär regierte Ungarn als unschuldiges Opfer einer deutschen Okkupation dar. Vor dem Hintergrund von 13 antikisierenden Säulen stürzt ein metallener Adler auf den Erzengel herab. Der Engel steht für Ungarn, der Adler natürlich für das Deutsche Reich. Für Adam Kerpel-Fronius, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter der deutschen Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der im Pester Lloyd zitiert wird, besteht die durch das Denkmal transportierte Geschichtsverfälschung darin, "dass Ungarn ein komplett unschuldiges Opfer des deutschen nationalsozialistischen Aggressors war. Während man den Holocaust als tragisches Kapitel der Geschichte anerkennt, wird die Verantwortung dafür allein Hitler-Deutschland in die Schuhe geschoben".

Ungarn nahm ja als Teil der Achsenmächte aktiv am Zweiten Weltkrieg teil und führte Krieg gegen Jugoslawien und gegen die Sowjetunion. Und schon lange vor der deutschen Besatzung hatte Ungarn Tausende Juden in den Tod geschickt oder als "Arbeitsdienstler" zur Zwangsarbeit in die ungarische Armee eingezogen. Horthy war ein Verbündeter Hitlers, der sich später als Retter der Juden feiern ließ. Denn im Juli 1944 stoppte er die Deportation von 200.000 Budapester Juden. Vorher hatte er allerdings mehr als 435.000 Juden in die Vernichtungslager schicken lassen.

"Ich kann die Rehabilitierung von Horthy und seinem Regime nicht hinnehmen", protestiert der Zeithistoriker László Karsai, der einen von mehr als 100 ungarischen Intellektuellen und Künstlern unterschriebenen Brief verfasst hat, in dem die Gedenkpolitik und Geschichtsverfälschung der Regierung verurteilt wird.

Karsai findet es untragbar, dass die ungarische Opfertheorie sogar in der Verfassung festgeschrieben wurde: "Das ungarische Volk ist unschuldig an allen Ereignissen zwischen 1944 und der Wende 1990. Mit der Ausnahme von wenigen Kollaborateuren. Ich bin wirklich enttäuscht, dass die Regierung sich diese Geschichtsdeutung zu eigen gemacht hat." Der Dachverband ungarischjüdischer Organisationen Maszihisz hatte schon Anfang des Jahres, als die Pläne für das Denkmal bekannt wurden, jede Teilnahme an einem Holocaust-Gedenken abgesagt. Premier Viktor Orbáns Kanzleramtsminister János Lázár warf der jüdischen Gemeinde daraufhin vor, mit ihrer Boykotthaltung "die Gesellschaft zu spalten".

Nicht verstummende Kritik

Premier Viktor Orbán hat das Monument gegenüber einer empörten jüdischen Gemeinde damit verteidigt, dass man "den gegenseitigen Respekt, das Verständnis und die Zusammenarbeit unserer Gemeinden" fördern wolle: "Das Denkmal, das die Opfer der deutschen Besatzung ehrt, ist ein Schritt in diese Richtung."

Dennoch wollten Kritik an Inhalt und Form des Monuments nicht verstummen. Der Einweihungstermin zum Jahrestag des deutschen Einmarsches am 19. März wurde zunächst bis nach den Wahlen vom 6. April verschoben. Dann war von Ende Mai und schließlich Ende Juni die Rede. Der überfallsartigen Aufstellung des Kitschmonuments wird, so wurde zuletzt bekannt, kein offizieller Einweihungsakt folgen. Dass das Denkmal gegen alle Widerstände errichtet wurde, ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass Viktor Orbán und seine nationalkonservative Regierung die Geschichte umschreiben wollen. Im vergangenen Jahr wurde ein Schulbuch aus dem Verkehr gezogen, das Ungarns Mitschuld an der Judenvernichtung thematisiert. Die Deutung der Vergangenheit obliegt jetzt dem Geschichtslehrer Ferenc Bánhegyi, der mit dem Verfassen von Unterrichtsmaterialien beauftragt ist.

In der neuen Pflichtlektüre für Ungarns Schülerinnen und Schüler wird "Hitler als tollkühner Führer" dargestellt, wie es in einer Reportage des Kultursenders ARTE heißt. Von der Mitschuld des Horthy-Regimes am Holocaust ist keine Rede mehr. In einem für die 5. Klasse vorgesehenen Buch für den Ethikunterricht klärt Bánhegyi auf, dass "die Führer der kommunistischen Räterepublik aus dem Judentum stammten". Im Auftrag des Unterrichtsministeriums organisiert der Mann auch Exkursionen und führt seine Schützlinge mit Vorliebe in das Karpatenbecken Rumäniens, das durch den Friedensvertrag von Trianon 1920 von Ungarn abgetrennt wurde.

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