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Verhungern in der Heimat

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Eine 5000-Mann starke Truppe garantiert noch immer den Einfluß Moskaus in Moldawien. Während ihr früherer General Lebed versucht, in Moskau Präsident zu werden, hat Wasilij Jewniewitsch das Kommando übernommen. Er ist 43 Jahre alt, kämpfte in Afghanistan und stand bei der Erstürmung des Weißen Hauses in Moskau auf der Seite Jelzins. Ebenso wie die Duma (das Parlament) in Moskau hält der General von einem Abzug seiner Truppe aus Moldawien wenig. Russische Soldaten sind bereits „seit 200 Jahren in der Region präsent und das soll auch so bleiben", erklärt er. „Mir hat niemand befohlen, den Rückzug der früheren 14. Armee, heute Operationsgruppe der russischen Streitkräfte, vorzubereiten; und selbst wenn das der Fall wäre, brauchten wir mindestens 3,5 Jahre, um die Soldaten und alles, was der russischen Föderation gehört, von hier auszuführen."

Rückblick: Blutiger Bürgerkrieg 1991. Moldawien erklärt seine Unabhängigkeit. Das überwiegend von Russen bewohnte Transnistrien will nicht mitmachen und gründet die Dnjestr-Republik (siehe Graphik). Der folgende monatelange Kampf zwischen Moldawien und Transnistrien wird durch den Angriff der 14. Armee beendet. Die Stadt Bender wird von beiden Seiten beansprucht. Sperren und Kontrollpunkte befinden sich auf allen Zufahrtsstraßen. Nach der Kontrolle der moldawischen Polizisten beginnen die Beamten-Transnistriens und Milizen vorbeifahrende Autos zu durchsuchen und Zölle einzuheben. Der Handel wird blockiert, Wirtschaftsaktivitäten werden im Keim erstickt. Beide Seiten geben sogar eigene KFZ-Schilder aus. Der Miliz-Chef der international nicht anerkannten Dnjestr-Republik erklärt: „Bis jetzt sind wir international nicht anerkannt, aber wir sind hier seit 1991 präsent. Deswegen halten wir uns selbst für anerkannt. Es gibt Probleme mit der Polizei aus Moldawien, aber darüber will ich nicht reden. Das ist unser Geheimnis."

Ein paar Meter weiter, auf der anderen Straßenseite das Konkurrenzunternehmen - die moldawische Polizei. Hier macht der Chef der Truppe kein Geheimnis aus den Konflikten: Die Transnistrier blockieren immer wieder ihre Strom-, Telefon-und Wasserleitung. Und zu den Milizen meint er: „Die können meiner Meinung nach als eine Lokalgruppe fungieren, das heißt gemeinsam mit uns für die Sicherheit und Ordnung in der Stadt sorgen. Sie dürfen aber auf keinen Fall eigene KFZ-Schilder und staatliche Urkunden in der Stadt Bender ausstellen."

Der amerikanische Diplomat Michael Wygant von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) versucht zusammen mit Kollegen aus den Niederlanden und der Tschechischen Republik den Konflikt zu schlichten. Unter Vermittlung der OSZE-Vertreter treffen sich einmal in der Woche Repräsentanten der 14. Armee Transni-striens und Moldawiens, doch eine endgültige Lösung wurde bis jetzt nicht gefunden. Nur in einem sind sich alle einig: nicht aufeinander zu schießen. Für den Sekretär des moldawischen Außenministeriums ist es eine beschlossene Sache, daß die 14. Armee so bald wie möglich abzieht. Sein Kollege aus Transnistrierl sieht dies ganz anders. Für ihn garantiert die 14. Armee die militärische Balance zwischen den Konfliktparteien. Er ist gegen einen Abzug, weil dadurch das Gleichgewicht zerstört würde.

In der Sowjetzeit war „alles besser"

Während sich Diplomaten und Militärs weiterhin über das politische Schicksal hinter verschlossenen Türen streiten, sinkt das Lebensniveau bedrohlich. In der Dnjestr-Republik gibt es kaum Arbeit. Straßenhandel ist für Tausende die einzige Überlebensmöglichkeit. Der Durch-Schnittsverdienst beträgt umgerechnet kaum 40 Schilling. Alten und sozial Schwachen droht der Hungertod.

Doch nicht nur Transnistrier bereiten Moldawien Kummer und Sorgen. Im Süden Moldawiens leben rund 150.000 Gagausen. 1992 erklärten sie sich für unabhängig und gründeten einen eigenen Staat. Die nationale Begeisterung war groß. Doch schon

bald rollten die Panzer. Moldawien wollte eine Teilung des Landes nicht zulassen. Ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich. Der Friede wurde in letzter Minute durch den litauischen Bildhauer Leonid Dobrow gerettet. Schon Anfang der 80er Jahre hatte er Pläne für eine Autonomie ausgearbeitet. Dafür wurde er von den kommunistischen Machthabern bestraft. Er mußte vier Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbringen. Doch diesmal hatte er mehr Erfolg. Die Waffen schwiegen. Der Autonomiestatus garantiert die kulturelle Freiheit der Gagausen und die Freiheit Moldawiens. Als Vorbild diente ihm das föderal gegliederte Deutschland. Die Fahnen Moldawiens und des autonomen Gebietes der Gagausen wehen seitdem auf jedem Amtsgebäude. Vor kurzem fand in der Hauptstadt Gagausiens, Komrat, der erste gagau-sische Kongreß statt. Dabei wurde endlich das ausgesprochen, worüber 40 Jahre lang nicht geredet werden durfte. Weil die Gagausen sich weigerten, sich in Kolchosen zu organisieren, beschlagnahmten die kommunistischen Machthaber 1946/47 Lebensmittelvorräte. Die Folge: eine riesige Hungersnot. Fast 60 Prozent der Gagausen kamen dabei um. Der reich gedeckte Tisch anläßlich der ersten gagausischen Konferenz täuscht. Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Viele haben nichts zum Essen und nichts zum Heizen. Fast über Nacht wurden viele Obstbäume und Weingärten von frierenden Dorfbewohnern gefällt. Gas und Kohle kann sich kaum jemand leisten. So halten viele wenig von der Autonomie. Zur Sowjetzeit konnten sie sich fast alles leisten. Die Kühlschränke waren voll von Lebensmitteln. Heute läuft nichts mehr. Der Imker Sascha Blega konnte zu Sowjetzeiten seinen Honig an den Staat verkaufen. Seit dem Autonomiestatus hat er keine Kunden mehr. Seine Hoffnung auf neue Abnehmer aus der Türkei oder Westeuropa hat er längst aufgegeben. Die Produktion der letzten fünf Jahre hat er immer noch in seinem Keller. Nur ganz wenige versuchen, aus eigenen Kräften etwas zustandezubringen.

In Komrat wurde die erste private türkische Brotbäckerei eröffnet. Doch die weitere Entwicklung ist fast unmöglich, weil die Exkommunisten dem Inhaber viele Hürden legen. So

kann er zum Beispiel das Gebäude, in dem die Bäckerei untergebracht ist, nicht kaufen.

Die gagausische Sprache, die dem Türkischen ähnlich ist, ist in der Kirche erhaltengeblieben. Die Gagausen sind ein Turkvolk, das sich zur Orthodoxie bekennt.

Die wirtschaftliche Situation ist in ganz Moldawien katastrophal. Viele versuchen das Land zu verlassen, vor allem die Angehörigen der deutschen Minderheit. In Kischinau, der Hauptstadt von Moldawien, gibt es rund 400 Deutsche, die sich in ihrem Zentrum „Hoffnung" regelmäßig treffen. Das Herz und die Seele der deutschen Gemeinde in Kischinau ist Eli Pilarino. Sie ist über jeden traurig, der Moldawien verläßt. Und wo fühlt sich Eli selbst zu Hause? Sie sagt: „Ich bin im Transkaukasus aufgewachsen, in Georgien. Dann habe ich in Sankt Petersburg studiert. Später habe ich im Ural gearbeitet und wurde in den Nordural verschleppt. Jetzt bin ich schon viele Jahre hier in der Moldo-wa. Sagen Sie mir, wo ist meine Heimat?" Die Heimat der vielen Mitglieder der deutschen Minderheit sind die trostlosen Betonblöcke in Kischinau. Hier wohnt auch Familie Tschernitschuk. Bleiben oder ausreisen ist für die Familie keine Frage mehr. Dank der deutschstämmigen Großmutter ist der Ausreiseantrag schon längst genehmigt. Und in ein paar Wochen geht es nach Deutschland. Dort erhofft man sich bessere Lebensbedingungen.

Viele wollen weg nach Deutschland

Für die Jugend, die aus der kommunistischen Zeit noch russisch spricht, gibt es hier keine Zukunft. Auch deswegen, weil sie die offizielle Landessprache - das Moldawische—, das dem Rumänischen gleich ist, nicht beherrschen. Fast alle wollen Deutsch lernen. Mit Hilfe des Internationalen Kolpingwerkes entstehen in Moldawien einige Projekte, die von Österreich aus betreut werden. Die Deutschen haben in Kirschinau keine eigene Kirche. Obwohl sie evangelisch sind, besuchen sie die polnische Kirche und feiern gemeinsam mit den katholischen Gläubigen Sonntagsgottesdienste. Eli Pilarino übersetzt dabei die Gebete, die von einem rumänischen Priester auf Deutsch gelesen werden, ins Russische. Der Priester hilft auch bei der Beschaffung der notwendigen Unterlagen, um die deutsche Abstammung nachzuweisen. Er stellt dafür sogar Taufbestätigungen aus. Ein paar Häuser weiter wohnt Arkadiusch Grad. Er ist einer der wenigen Deutschstämmigen, die auf keinen Fall nach Deutschland gehen möchten. Im Bahmen der Privatisierung war es möglich, sein kleines Häuschen zu kaufen. Gegen eine Notunterkunft in Deutschland möchte er sein Eigentum nicht tauschen. Seine Frau ist eine Russin und ebenso wie ihr Mann hat sie keine Lust auf einen Neuanfang in einem fremden Land.

Ob die Menschen bleiben oder auswandern, das ist vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes abhängig. Mit Millionen Beiträgen fördert seit kurzem die Weltbank die Umstrukturierung der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft.

Ein aussichtsreiches Unternehmen ist die Lederfabrik Piele in Kischinau. Andreas Dernbach ist deutscher Wirtschaftsexperte. Mit einheimischen Mitarbeitern bildet er ein junges Team, das die Lederfabrik auf neue Absatzmärkte im Westen vorbereitet. Auch in seinem Team ist Auswandern ein Thema. Doch je mehr Perspektiven die zukünftigen Führungskräfte im eigenen Land sehen, desto weniger wird vom Weggehen gesprochen.

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