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Verlorene Regierungsbildung?

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Bei den Nationalratswahlen 1966 haben für die ÖVP Bedingungen bestanden, wie sie ihr noch nie verfügbar gewesen sind. Die gebotenen Bedingungen wurden im Wahlkampf optimal genutzt. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre erhebt sich aber die Frage, ob diesmal das Wahlergebnis in einer entsprechenden Regierungsbildung ausgewiesen oder wieder ein politisch neutrales Resultat bleiben wird.

Seit 1945 hatte die ÖVP bei allen Wahlschlachten mit den Waffen des Stimmzettels gesiegt; aber nicht einmal išt der Wahlsieg aliquot dem Mandatsergebnis und daher dem Willen der Wähler gemäß ausgewertet worden. Wer eine Partei wählt, bekundet mit Abgabe des Stimmzettels nicht nur seine Absicht, die von ihm gewählte Partei angemessen im Hohen Haus vertreten zu sehen, sondern auch die Meinung, daß seine Partei in der ministeriellen Exekution vom Parlament beschlossener Gesetze in optimaler Stärke eingesetzt wird.

Im Rahmen der Regierungsbildung hat die ÖVP bisher oft „spontan” das Wahlergebnis zugunsten der SPÖ berichtigt. Dieses „Entgegenkommen” wurde ihr — und mit Recht — nie gedankt.

Die SPÖ geht konsequenterweise davon aus, daß man die Parteiziele in der ersten Etappe des Weges zu einer perfekten sozialistischen Gesellschaftsordnung mittels der Instrumente einer Verwaltung der Menschen und, wenn notwendig, durch Manipulation der öffentlichen Meinung, also auf einem nur-poli- tischen Weg, ansteuem müsse. Bei der Regierungsbildung sind dagegen die Unterhändler der Volkspartei bisher noch immer, wenn auch nicht programmatisch, so doch in der Praxis, zu sehr von ökonomischen Kategorien bestimmt, bemüht gewesen, sich in den Besitz jener Ministerien zu setzen, welche für die Stabilisierung der bestehenden Eigentumsstruktur und einer freiheitlichen Gesellschaft nützlich zu sein scheinen. Daß man etwa eine Eigentumsordnung sehr wohl lediglich durch Verwaltungsakte aufheben kann, ist aber in den letzten Wochen eindeutig bewiesen worden. Bisher war unverkennbar, daß die SPÖ bei der Regierungsbildung in erster Linie die politischen und die politisch- wirtschaftlichen Ministerien erhalten hat, die ÖVP die wirtschaftspolitisch bedeutsamen. Der einmal nicht immer mit fairen Mitteln unternommene Versuch, das Außenministerium in die Hand zu bekommen, ist daher geradezu atypisch gewesen.

Ungleiche Gewichte der Ministerien

Als Folge einer mehr als 20 Jahre dauernden gemeinsamen Verwaltung besteht zwar zwischen den beiden Großparteien eine Art von Gütergemeinschaft bis auf die unterste Ebene des öffentlichen Eigentums, nicht aber eine Teilung der politischen Schlüsselgewalt, die den Wahlergebnissen Rechnung tragen würde, da diese eben im Verlauf der Regierungsbildung unproportional und unter apolitischen Aspekten transponiert wurden.

Bei den Regierungsverhandlungen geht die ÖVP außerdem oft davon aus, daß jedes Ministerium mit dem machtpolitischen Faktor eins zu versehen sei. Daher nimmt man etwa bei einer Relation von sechs zu sechs Ministeriell an, daß so etwas wie ein Gleichgewicht auf Regierungsebene vorhanden sei. Die Gewichte der einzelnen Regierungsämter werden nicht oder unzureichend in das jeweilige Kalkül einbezogen. Erkämpft sich die ÖVP vielleicht diesmal ein Ministerium mehr, so wird sie unter Umständen deswegen allein wieder einen Sieg ausweisen, weil sie eben quantitative Kalküle vornimmt. Tatsächlich hat aber jedes Regierungsamt einen arteigenen politischen Einfluß wert und ist mit einem spezifischen Valorisatlons- faktor versehen: Die parteipolitisch nutzbaren Machtchancen, die im Innenministerium angelegt sind und seit Olah ununterbrochen aktiviert werden, haben ein anderes Machtgewicht als beispielsweise die Machtpotenzen des Landwirtschaftsministeriums.

Bei den letzten Präsidentenwahlen ist von seiten der SPÖ sehr geschickt und wirksam der Hinweis auf die Sicherung des politischen Gleichgewichtes auf Bundesebene praktiziert worden. Die andere Seite hat diesem Argument nie die Behauptung entgegengestellt, daß die SPÖ seit 1945 ohnedies die politische und auf diese Weise die primäre Macht auf Bundesebene gehabt hat. Wie sehr dies der Fall gewesen ist, haben aber die letzten Jahre und in einer unheimlichen Überdeutlichkeit die letzten Wochen erwiesen. Daß die letzte, die allerletzte Machtdemonstration der SPÖ ihr zehntausende Stimmen kosten würde, konnte von der Parteiführung nicht sofort vorausgesehen werden, um so mehr, als sie kaum noch Kontakt mit den Massen hat. Jedenfalls ist die SPÖ durch 20 Jahre die Repräsentanz von Polizeimacht und viele Jahre von staatsanwaltschaftlicher Machtfülle gewesen. Und dies mit Lizenz der Volkspartei.

Seit 1945 waren sozialistisch:

• Der Bundespräsident. Die Männer an der Spitze der Republik, das sollte gerade in diesen Wochen angemerkt werden, hatten bisher ihre Macht nur dosiert und dem Geist der Verfassung entsprechend eingesetzt.

• Die Polizei und später noch eindeutiger auch die Gendarmerie waren und sind unter sozialistischer Führung und in den letzten Jahren oft derart manipuliert worden, daß man an die Konstitution einer Rar- teiwehrmacht denken mußte. Das gilt vor allem füp die Gendarmerie.. Wer zu inhaftieren war, entschied seit 1945 ein sozialistischer Minister. Daß dies so war, ist freilich bis zu Minister Afritsch nicht aufgefallen.

• Die Justiz und dadurch die Möglichkeit, den öffentlichen Ankläger nach Belieben einzusetzen, war stets indirekt und zuletzt in einer erstaunlichen Direktheit einem Sozialisten anheimgegeben. Selbst die Rechtsprechung schien nicht immer frei und unabhängig zu sein.

• Die verstaatlichte Industrie ist, seit sie im Kanzleramt zu einem Verwaltungskörper integriert und ln unmittelbare ministerielle Verwaltung genommen worden ist, stets von Sozialisten geführt worden. Auf Grund der autonomen Konstitution ist aber die Sektion IV des Bundeskanzleramtes keine „Sektion”, sondern einfach ein Ministerium mit einer Machtfülle, die weit über jene des Kanzleramtes hinausgeht.

• Das Verkehrsministerium ist Dienstgeber der Mehrheit der öffentlich Angestellten und kann über diese politisch wirksam sein. Man denke an die merkwürdigen Führungsverhältnisse bei den ÖBB, die das einzige Unternehmen des freien Westens sind, welches nach syndikalistischen Vorstellungen geführt wird, ein Tatbestand, auf den ein Teil des Strukturdeflzites zurückzuführen ist.

• Der Rechnungshof war ebenfalls stets außerhalb der Einflußsphäre der Volkspartei und stellt seit einiger Zeit eine Art FPÖ-Enklave dar, deren Errichtung eine (unbare) Ratenzahlung auf den seinerzeitigen Kaufpreis für die Stimmen der FPÖ- Abgeordneten gewesen ist.

Dazu kommt noch der ÖGB, ohne den heute in Österreich nicht regiert werden kann und regiert werden soll. Im Fall der Gewerkschaften ist nicht von einem „Verschulden” zu sprechen, wenn die Mehrheit der Mitglieder der SPÖ anhängt. Diese Tatsache ist Reflex der besonderen Aufwuchsbedingungen der österreichischen Industrialisierung, ein Teil der fast petriflzierten Sozialgeschichte unseres Landes.

Auch das Fernsehen ist eine mehrheitlich von der SPÖ geführte Einrichtung. Man weiß, daß die ÖVP einmal die Chance gehabt hätte, bestimmend auf das Fernsehen Einfluß zu nehmen. Geniale „einsame” Beschlüsse, über die man sich auch heute noch in ÖVP-Kreisen nur unter vier Augen zu äußern wagt, haben zur Aufgabe eines sehr wesentlichen Meinungsbildungsinstrumentes geführt. Die Bewegung um das Volksbegehren ist Anzeiger für seinerzeit gemachte Fehler. Auch der ÖVP. Daß auch die Wochenschau ein SPÖ-Instrument ist, hat angesichts der abnehmenden Bedeutung dieser Einrichtung und ihrer politischen Aufdringlichkeit wenig Bedeutung.

Die Ressortverteilung ändern

Die Folge des permanenten faktischen Ungleichgewichtes in unserer Binnenpolitik ist dadurch ausgewiesen, daß die SPÖ seit 1955 ostentativ Opposition in. der Regierung simulieren konnte und dies mit den Machtinstrumenten der Regierung. Da nun aus der Natur die SPÖ-Mini- sterien diese eher Forderungs- als Inkassantenministerien sind, haben die Sozialisten das Gewicht der Argumente meist auf ihrer Seite gehabt. Die ÖVP ist daher überwiegend Forderungsadressat: sie „macht” sowohl die Steuern wie die Preise. Und das in einer Gesellschaft, die in großen Teilen im Zustand von Konsumneurosen denkt und das Verweigern eines Konsum-mehr-Begehrens strikte ablehnt und mit dem Stimmzettel bestraft.

Die Koalition war in den letzten Jahren weder eine Ehe noch eine Lebensgemeinschaft. Die strukturelle Uneinigkeit in der Regierung war sicher auch ein von menschlichen Eigenarten bestimmtes Phänomen, eine Folge des Umstandes, daß nun einmal nicht zwischen allen Men- sehen, wenn sie gleichsam ex offo Gegner sein müssen, jene persönlichen Kontakte möglich sind, die man für ein gemeinsames Regieren braucht. Auch die Ansichten über Treu und Glauben sind im privaten Leben und in der Politik nicht immer gleich. Für manche Männer in der Regierung war daher ihre Tätigkeit eine Form von Vorhölle. Die kaum reparabel scheinende politische Impotenz der Regierung ist aber weitgehend auch darin begründet, daß die Regierungsämter nicht organisch auf die Parteien aufgeteilt worden sind, sondern beiderseits im Sinn von bewußten oder unbewußten Klassenkampfvorstellungen in Widerspiegelung historischer Sozialkonflikte, die lediglich durch ein optimales Machtgleichgewicht oder — diesmal — durch Bedachtnahme auf die Mandatsverteilung aufgehoben werden können.

Für die ÖVP kommt gegenwärtig noch dazu, daß sie von Tausenden von Sozialisten (die es bleiben) und von Freiheitlichen (die es ebenfalls bleiben) gewählt worden ist — in der Annahme, daß sie Macht anders nützen werde, als die bisher gewählten Parteien. Auch die Mehrheit der Jungwähler, welche 1966 der ÖVP ihre Stimme gegeben haben, taten dies nicht allein wegen der Mandatsverteilung, nicht wegen der Rücksichtnahme auf zu erhaltende historische, ökonomische oder politische Strukturen, sondern weil sie eine andere Regierung wollen, personell und noch mehr in der Ressortverteilung.

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