6678744-1961_34_06.jpg
Digital In Arbeit

Versuchung „direkte Aktion”

Werbung
Werbung
Werbung

Die Fünfte Republik besteht aus dem General de Gaulle und nichts anderem. Was sich in Form von Verfassungstexten, andeutungsweise errichteten neuen Institutionen und mehr oder weniger deutlich umrissenen Personenkreisen hinter ihm als „Infrastruktur” des Regimes aufbaut, lebt einzig und allein aus ihm. Ist de Gaulle einmal nicht mehr da — und das kann über Nacht geschehen —, so dürfte diese Struktur sich in Nichts auflösen. Ihre einzelnen Bestandteile würden sich in ganz anderen Konstellationen neu gruppieren.

In dieser Lage ist es von kapitaler Wichtigkeit, was an den Rändern an Kräften bereit steht, die in das Vakuum vorstoßen könnten. Jene Gruppen der Mitte, welche die vorausgehende Vierte Republik ausgemacht haben, dürften sich kaum von dem Schlag erholen, den ihnen der Putsch vom 13. Mai 1958 und der auf ihn folgende Aufstieg de Gaulles versetzt haben. Das komplizierte, feingesponnene Repräsentativsystem, mit dem sie bis zu jenen Maitagen sowohl die Massen wie die „prokonsularischen einzelnen” von der Macht ferngehalten hatten, ist von groben Händen beschädigt worden; der Druck der Straße und das Plebiszit, welche von der Parlamentsdemokratie wie der Teufel gefürchtet wurden, sind wieder zu gebräuchlichen Werkzeugen der Politik geworden.

Wie aber steht es um die Linke, die ihrer Tradition und ihrem Wesen gemäß diese beiden Werkzeuge nicht fürchtet? Sie hat sich in den Winterschlaf begeben, als sie hinter einem Vorhang bloß rhetorischer Opposition dem General die Durchführung „ihrer” Algerienpolitik, derjenigen der Liquidation nämlich, überließ. Zudem vermögen die Gewerkschaften, welche immer noch als die eigentliche Lokomotive dieser Linken gelten, die Massen nur noch zur Verteidigung ihrer unmittelbaren materiellen Interessen in Bewegung zu bringen. Die französischen Massen hat heute hinter sich, wer ihnen den Status quo ihrer täglichen Existenz garantiert (und dazu gehört in erster Linie auch, daß sie möglichst wenig von Politik belästigt werden). Darum schlägt die Stunde für die Linke erst, nachdem eine Regierung der Rechten an den französischen Problemen gescheitert ist oder gar ins Abenteuer zu führen droht.

„Zurück zum Startplatz”

Es mag erstaunen, daß wir nach ihrer Niederlage bei dem Aprilputsch überhaupt noch mit der Möglichkeit einer Regierungsübernahme durch die Rechte rechnen. Gewiß, die Person de Gaulles blockiert ihr den Zugang zur Macht, denn der General ist nun einmal für den Franzosen die Garantie jenes Status quo (daß de Gaulle die Verfassung außer Kraft gesetzt hat und als Diktator regiert, stört darum den „Mann auf der Straße” gar nicht). Die politische Funktion dieses außergewöhnlichen Mannes als ein „Aufhalter” könnte jedoch eine überraschende Folge haben, wenn seine Person in dieser oder jener Form ausfiele: Es könnte sich dann zeigen, daß gewisse Probleme nicht gelöst, sondern nur vertagt worden sind — kurzum: die französische Geschichte könnte von neuem an einem Punkt ansetzen, den man längst hinter sich glaubte. Was den für die Sicherheit des Staatschefs Verantwortlichen den Schlaf raubt, ist eine Tatsache, die den Kennern der Opposition auf der Rechten vertraut ist: Alles Denken und Träumen, und vielleicht auch manches Handeln, konzentrieren sich dort zur Zeit auf die Möglichkeit eines solchen Neuanfangs.

Diese gefährliche Möglichkeit ist allerdings nicht das einzige, was diese Rechte in die Waagschale zu werfen vermag. Zwar fehlt ihr ein allgemein anerkannter Chef und eine alles umfassende Organisation, aber sie vermag sich auf zwei Personenkreise zu stützen, die zur Verzweiflung gedrängt sind und sich darum von der Passivität der Mehrheit abheben: auf das Offizierskorps (und gewisse, ihm verbundene Elitetruppen) und auf die europäische Bevölkerung Algeriens. Und sie wird von einem mächtigen Affekt zusammengehalten, der seine tiefen Wurzeln in der französischen Geschichte, in dem trotz aller Beschränkung auf die tägliche Existenz immer noch vorhandenen „kollektiven Gedächtnis” des Volkes hat. Hinzu kommt außerdem, daß diese Rechte in über Frankreich hinausreichende Zusammenhänge zu stehen kommt, die unter Umständen aus einer „Nachhut der Geschichte” in überraschender Verkehrung eine Vorhut machen könnten. Nur aus dem Ineinander dieser Elemente ist wohl das erstaunlich milde Urteil über die Generäle Challe und Zeller zu verstehen — ein Urteil, das der Rehabilitierung gleichkommt, wenn man bedenkt, daß sonst innerhalb der militärischen Tradition für die Führer eines bewaffneten Aufstandes gegen die legale Macht die Todesstrafe üblich ist.

Die Jugend an den Flügeln

Dann aber hat die äußerste Rechte noch einen Vorteil aufzuweisen, der zwar vor jenem Sondergericht keine Rolle gespielt haben dürfte, den man ihr aber nur auf der äußersten Linken streitig machen kann: sie hat viel Jugend in ihren Reihen. Eine der Schwächen des Parlamentsregimes war, daß es der Jugend fremd blieb. Die Mehrheit der Jugend war damals wie heute betont „unpolitisch”; die Minderheit aber, die sich der Politik zuwandte, sammelte sich an den Flügeln, bei der KP und dem Rechtsextremismus.

Auf der Linken hat sich das nun etwas verschoben: Die Kommunisten haben seit einiger Zeit Mühe, in gleichem Maße wie früher Jugend zu rekrutieren: Der peinliche Legalismus ihrer Partei hat in den letzten Jahren die junge Linke mehr und mehr zu den Bewegungen und Untergrundorganisa- tionen getrieben, die sich im Niemandsland zwischen der KP und den „verbürgerlichten” Mehrheitssozialisten Guy Mollets gebildet haben. Dort scheute man ja vor der „direkten Aktion” nicht zurück — sei es nun Meuterei, Desertion oder gar aktive Unterstützung des FLN.

Von einer ähnlichen Verlagerung auf der äußersten Rechten zu sprechen hat wenig Sinn, da es dort keine die Jahre oder gar Jahrzehnte überdauernde Organisation wie die KP auf dem anderen Flügel draußen gibt. Auf organisatorischer Ebene ist es vielmehr das Kennzeichen des äußersten rechten Flügels, daß dort ein ziemlich konstant bleibender Personenkreis sich unablässig neue organisatorische Gewänder überwirft. Einmal firmierte man als „Rassemblement National”, später war es die „Jeune Nation” mit ihrem Keltenkreuz, und heute taucht an den Pariser Hauswänden und in den Gängen der Metro die Sigel „O. A. S.” (Organisation der Geheimen Armee) auf, ohne daß man genau zu sagen wüßte, was denn diese Untergrundorganisation eigentlich repräsentiert.

Mit diesem allmählichen Eintauchen des äußersten rechten Flügels der französischen Politik in die Illegalität und den Untergrund ist aber eine Entwicklung verbunden, welche die merkwürdige Faszinationskraft dieser Gruppen bei der Jugend erklärt. Es sind nun nicht mehr bloß die absoluten Forderungen und Programme, die schon immer junge Leute zu den Extremisten lockten — es kommt nun der Anreiz des ebenso absoluten Handelns hinzu. Daß inmitten der scheinbar so allmächtigen Bürgerlichkeit des französischen Lebensstils ein Teil der Jugend zur „direkten Aktion” drängt, ist nicht nur ein Vorgang auf der Linken.

Ein kennzeichnendes Symptom war in den letzten Jahren, daß mit dem sich ausbreitenden „Para”-Mythos eine erhebliche Zahl, insbesondere von Gymnasiasten in halbstaatlichem Rahmen, sich im Fallschirmspringen trainierte. Seit nun die nach dem 13. Mai 1958 geschlossene Vernunftehe zwischen de Gaulle und der Rechten wieder auseinandergebrochen ist, ist auch das schon Kinderspiel geworden. Nun werden Bomben geschmissen, und der politische Mord, der seit 1944 wieder aus der französischen Politik verschwunden zu sein schien, feiert LIrständ. Daneben nehmen sich die royalistischen und faschistischen Stoßtrupps, die zwischen den beiden Weltkriegen das Quartier Latin bevölkerten, als bloßer Studentenulk aus.

Der große Schüttelbecher

Das alles betrifft aber nur die Methode, den Stil. Welches sind denn die „Inhalte”, welche diese aktivistische Rechte verbinden? Hierin scheint sie auf den ersten Blick nichts anderes als ein anarchisches Durcheinander von Unvereinbarkeiten zu sein. Beim Prozeß gegen die Rebellengeneräle kam das kraß zu Bewußtsein. Was konnten ein Zeller und ein Challe jenseits eines gewissen Korpsgeistes überhaupt miteinander gemeinsam haben? Vom ersteren wußte man, daß er, wie viele Berufsoffiziere, ganz vom Geist jenes altkonservativen Katholizismus geprägt ist, dem die Republik immer nur eine Brutstätte der Korruption und der Feigheit war. Challe hingegen galt von jeher als ausgesprochener Republikaner und wurde von manchen Offizieren wegen seiner guten Beziehungen zur sozialistischen Partei (die Mollet heute abstreitet) scheel angesehen. Und wie paßt da der Dritte im Bunde hinein, General Salan, der gegen Ende des April- putsches anscheinend Challe als „Lauen” verhaften wollte? Die Zugehörigkeit dieses „Rechtsextremisten” zur Freimaurerei ist bekannt, und es ist noch nicht allzu lange her, daß er selbst als „Lauer” von einem Ultrakommando mit Hilfe einer Bazooka aus dem Wege geräumt werden sollte.

Verfechter der These einer „levee en mässe”, welche dem Aprilputsch ein Ende gemacht haben soll, malten zur Unterstützung ihrer These pathetische Schwarzweißbilder: Man sah da den Citoyen in den Wäldern um Paris die gleichen Molotow-Cocktails gegen die „Faschisten” aus Algier vorbereiten, die er während des Krieges schon gegen deren „deutsche Vorbilder” geschmissen hatte. Nun sind aber die Offiziere, welche den Aprilputsch durchführten, in ihrer überwiegenden Mehrheit Veteranen der Resistance — und zwar der wirklichen, nicht der bloß rhetorischen und nachträglichen. Pierre Lazareff jedoch, der als Direktor des französischen Blattes mit der größten Auflage, von „France-Soir”, der eifrigste Herold de Gaulles während jenes Putsches war, vergnügte sich während des zweiten Weltkrieges damit, von New York aus auf — de Gaulle zu schießen

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung