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Volkspartei 1962

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Die ÖVP befindet sich nicht, wie in allzu starker Vereinfachung behauptet wird, in einer „Krise“. Dagegen sind Anpassungsschwierigkeiten unverkennbar, die behoben werden müssen, soll die Partei nicht auf lange Sicht von der Führung verdrängt und der Konkurrenz bestehender oder noch zu errichtender Parteien in einem für sie schwer zu bewältigenden Ausmaß ausgesetzt sein.

• Vor allem muß die Partei endlich aus einer Wahlpartei zu einer echten, organisatorisch integrierten Partei werden. Die eigentliche Parteiarbeit wurde bisher zugunsten der Regierungstätigkeit vernachlässigt. Die Parteiführung, soweit mit Regierungsfunktionen betraut, widmete sich allzu wenig der Parteiarbeit, war mehr „Prominenz“, mehr „Gesellschaft“ als notwendig. Die Partei muß neben und über den Bünden, aus deren Summe sie bisher erst eine Wirklichkeit zu ein vermochte, eine Eigenexistenz führen und als solche attraktiv sein. Die Verantwortlichen vergessen übrigens, daß es erheblich mehr Personen gibt, welche die Partei, unabhängig von den Bünden, wählen. Diese Menschen, die Gesinnungswähler, werden aber weder organisatorisch noch propagandistisch ausreichend beachtet. Stets vermag sich die Partei nur als Interessentenverband vorzustellen; ein Umstand, der bei Interessenkonflikten, etwa bei Wahlen, zu bedenklichen Absenzen führt. Wäre die Partei, wie sie sich selbst vorstellt, nur eine ,-,bür-gerliche“ Partei, hätte sie kaum jene imponierende Größe, auf die sie trotz eines 17jährigen Abnutzungsprozesses immer noch hinweisen kann.

• Die Partei muß mehr langfristige Politik treiben und darf nicht, in einzelnen Situationen vom Gegner bedrängt, lediglich in Reflexen handeln, gleichzeitig einen selbstverschuldeten Autoritätsschwund beklagend. Die bisherigen, als politisch etikettierten Initiativen waren nicht selten unrealistisch, und kaum anziehend. Es sei uns erspart, auf die verschiedenen „Pläne“ hinzuweisen und zu prüfen, wie sie und die in viel bedrucktem Papier niedergelegte Arbeit der Unzahl von „Ausschüssen“ realisiert wurden! Will die Partei eine politische und nicht nur eine interessebefangene Partei werden, bedeutet dies: Beachtung der Erkenntnisse der politischen Wissenschaften, des politischen Prozesses, seiner Natur, der Gesetze der Massenpsychologie, der ökonomischen und sozialen Realitäten und auch ein Abgehen von der geradezu peinlichen Geistesfeindlichkeit einer primitiv-pragmatischen Führung.

• Die ÖVP muß, wie die SPÖ, eine Kleingesellschaft werden, Lebens- und Bildungsraum für ihre Anhänger, die in den wenigen, sie erfassenden Organisationen in einer unzureichenden Weise integriert sind. Was auch fehlt sind, neben dem Fußvolk, das nur bei Wahlen aufgerufen wird.Vorfeldorganisationen, die es bisher nur im bäuerlichen Bereich gibt.

• Die Parteipropaganda ist bestenfalls auf Bundesebene, und auch dann nur bei Wahlen, merkbar. Zwischen den Wahlterminen und auf der Ebene der lokalen Organisationen kann dagegen kaum so etwas wie ein Hinweis auch nur auf den Bestand der Partei festgestellt werden, es sei denn, man will die (meist leeren) Anschlagkästen oder die geradezu beleidigend primitiven Plakate der Werbung zurechnen.

• Der Versuch, die ÖVP endlich aus einer Interessentenkooperation zu einer auch zwischen den Wahlterminen funktionierenden Partei zu machen, muß scheitern, wenn man nicht endlieh den Mut hat, Unfähige und Liebkinder aus der Region der sogenannten „Gesellschaft“, i die bestenfalls gute Manieren aufweisen können, aus den Führungsgremien zu eleminieren. Dabei kommt es nicht immer auf das Alter an. Gerade durch das Ansetzen einer oberen Altersgrenze hat man sich ein billiges Alibi geschaffen, um Ungeeigneten bis zur Erreichung der gesetzten Altersgrenze ein ungestörtes Ausüben der gutdotierten Amterln zu sichern.

Bei der Selektion der Kandidaten scheint es überhaupt kein Auswahl-p r i n z i p zu geben. Wie anders wäre sonst die merkwürdige „Auslese“ etwa bei der Reihung der Kandidaten des Bundeslandes Wien bei den letzten Wahlen wohl zu erklären.

• Soll die Partei funktionieren, bedarf es nicht nur einer förmlichen Führung, die siel) in der Abgabe von Erklärungen zu dokumentieren sucht, sondern einer in jeder Situation durchsetzbaren Führungsautorität. Der Übergang von der Vater-Ära Raab konnte offenkundig nur unter Aufgabe der Autorität der Parteispitze vollzogen werden. Die Partei wird daher gegenwärtig zum Teil vom Apparat und zum Teil von außerhalb der Partei befindlichen Gruppen geführt.

• Will die Partei in Führung und Handeln die gesellschaftlichen Strukturen und ganz besonders die soziale Struktur ihrer typischen Wählerschichten reflektieren, muß sie davon absehen, so vorzugehen als ob man noch das Jahr 1847 schreiben würde. Es sei denn, die Partei zieht es vor, in Widerspruch zu ihrem Namen, nicht Volks partei zu sein. Gerade im Interesse einer freien, allgemeine Wohlfahrt sichernden Wirtschaft muß aber die Partei, entgegen dem demonstrativen Kollektivismus einzelner SPÖ-Führer, mit den Versuchen ernst machen, Freiheit und Wohlfahrt zu koordinieren. Man kann nicht allein auf dem Arbeits markt Ordnung schaffen und dort Höchstpreise festsetzen wollen, aber den Waren markt einer Selbstheilung um einer sagenhaften „Freiheit“ willen überlassen. Daher bedarf die Position der Partei eeeenüber den Gewerkschaften endlich einer Klärung. Die falsche Gleichung, OGB=SPO, hat den Gewerkschaftsbund immer mehr auf die Sozialisten fixiert, weiß er sich doch sicher, daß jede Maßnahme, die er nun einmal propagiert, vorerst von der ÖVP als „parteifeindlich“ angesehen und abgelehnt wird. Die Entwicklung, wie sie bei den letzten Wahlen in Rheinland-Westfalen sichtbar geworden ist, sollte auch der ÖVP eine ernste Warnung sein. Selbst das Blatt der bisher sehr der CDU zugeneigten westdeutschen KAB sieht sich veranlaßt, darauf hinzuweisen, daß sich die katholischen Arbeitnehmer angesichts der Haltung der Bonner Koalition allmählich den Argumenten der SPD nicht mehr ganz verschließen können. Die Folge war, daß beachtlich viele katholische Arbeiter diesmal die SPD gewählt zu haben scheinen. Wie sinnlos war es etwa, den Wahlkampf 1962 mit einem Anti-Streikplakat zu eröffnen; wozu mußte ein ÖVP-Minister in der Schuldebatte im Zusammenhang mit einer Kontroverse mit NR Uhlir gegen die Lohnforderungen Stellung nehmen?

Wenn man vom Erstauftreten des VdU, 1949, absehen will, hat es seit 1945 kaum eine Wahl gegeben, bei welcher es schwieriger und geradezu bedenklicher war, so etwas wie eine Wahlprognose zu erstellen, als diesmal. Die Wandlungen der gesellschaftlichen Strukturen, die Konstitution einer Wohlfahrts- und Konsumgesellschaft ebenso wie eine langdauernde Vollbeschäftigung, werden sich 1962 in einer bisher noch nicht möglich gewesenen Reinheit auch in Wahlresultate umsetzen. Die Natur des politischen Prozesses ist jedenfalls 1962 gegenüber 1932 wie auch 1959 völlig gewandelt.

Die Zahl der Unbekannten, welche diesmal einer Gültigkeit von Prognosen entgegenstehen, aber auch die Qualität der Unbekannten selbst, läßt es geraten erscheinen, keine Vorhersagen zu machen, sondern lediglich jene gewichtigen Elemente anzuzeigen, die, weil eben „Unbekannte“, wahlentscheidende Wirkungen haben können. Anderseits mußte man aber gerade in Österreich immer wieder einen viele Generationen überdauernden Konservativismus im Parteibekenntnis feststellen, der sich bisher als ein beachtenswerter Stabilisator erwiesen hat und auch soziale Strukturwandlungen nicht zu konformen politischen Veränderungen werden ließ.

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