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„Vollständige Lähmung des Staatslebens”

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Im fünften Jahr nach der Umwälzung steht Bulgarien mit seinen Problemen -wie die anderen Reformstaaten - nicht allein da.

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Im fünften Jahr nach der Umwälzung steht Bulgarien mit seinen Problemen -wie die anderen Reformstaaten - nicht allein da.

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Eine Beihe politischer Erschütterungen Anfang 1994 rüttelte das Leben in diesem Balkanstaat gründlich durch und veranlaß-ten die Menschen, über vorgezogene Parlamentswahlen zu sprechen. Die Devisenkrise, die mageren Ergebnisse der Privatisierung der Industrie sowie die nur schleppend vorangehende Bückgabe des Bodens an die Bauern stellten die weitere Existenz der Begierung Ljuben Berovs in Frage, die Ende 1992 im Parlament mit Hilfe der Bewegung für Bechte und Freiheiten (BFB, Partei der ethnischen Türken in Bulgarien) und mit Unterstützung der Abgeordneten der Bulgarischen Sozialistischen Partei (Ex-Kommunisten) an die Macht gekommen ist.

Anfang 1994 kam es auf dem bulgarischen Devisenmarkt zu einem explosionsartigen Anstieg des Wechselkurses des US-Dollars, der auch die anderen fremden harten Währungen in die Höhe schnellen ließ.

Es folgte die Abwertung des bulgarischen Lew in den vergangenen fünf Monaten um mehr als das Zweifache (220 Prozent). Diese Tatsache ist auf die Wirkung mehrerer grundlegender ökonomischer Faktoren zurückzuführen: an erster Stelle das wachsende Zahlungsbilanzdefizit, das in hohem Maße wegen des Embargos gegen Rest-Jugoslawien bedingt ist. Dazu beigetragen haben auch die reinen Spekulationsgeschäfte als Folge des Mißtrauens gegenüber dem bulgarischen Lew.

Der Sprung bei den Devisenkursen sowie die erhöhten Stromgebühren und die Einführung der Mehrwertsteuer ab 1. April lösten ei-nen wahren Preisschock in der Bevölkerung aus: die Waren und Dienstleistungen verteuerten sich um zirka 40 Prozent in einem Land, in dem der Durchschnittslohn umgerechnet zirka 700 Schilling beträgt und sich die Arbeitslosigkeit auf 17 Prozent beläuft.

Laut Berechnungen der Gewerkschaften Bulgariens leben 55 Prozent der Landesbevölkerung und 90 Prozent der Rentner unter der Grenze des Existenzminimums. Diese negativen Entwicklungen riefen landesweite Streikaktionen der Gewerkschaft KNSB hervor, die am 18. Mai das wirtschaftliche Leben lähmten.

Die Gewerkschaft fordert eine Lohnerhöhung um 34 Prozent als Antwort auf die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Die Regierung erklärte, die erforderlichen Geldmittel dafür nicht bereit zu haben. Am 19. Mai scheiterte das bereits sechste Mißtrauensvotum der antikommunistischen Union der Demokratischen Kräfte (UKD), weil Abgeordnete der BSP und der Bewegung für Bechte und Freiheiten an der Abstimmung im Parlament nicht teilnahmen. Die Opposition hatte mit 96 nicht die erforderliche Mehrheit von 121 Stimmen erreicht. Staatspräsident Schelju Schelevs Haltung zur UKD hat sich geändert. Ihm ist an einer neuen Begierung, bestehend aus Vertretern der UKD, der BBF und anderen kleineren politischen Kräften gelegen, jedoch ohne die

Sozialisten. Schelev, ein ehemaliger UKD-Führer, der bisher die Aktivitäten der Begierung Berovs billigte, erklärte unlängst im Fernsehen, daß er der Begierung seine Unterstützung entziehe. Schelev sprach sich für vorgezogene Parlamentswahlen aus; seiner Meinung nach sollten sie bis Jahresende durchgeführt werden.

Diese vorgezogenen Wahlen stehen seit langem auf der Forderungsliste der antikommunistischen Opposition. Die Fragen nach einem neuen Wahlgesetz und einem neuen Expertenkabinett werden von der parlamentarischen Mehrheit von Ex-Kommunisten und ethnischen Türken jedoch nicht erörtert. Es wird vor allem an finanzielle und sonstige Vorteile für die Abgeordneten erinnert, sowie daran, daß die meisten von ihnen wahrscheinlich Neuwahlen nicht überleben würden.

In dieser angespannten Lage mußte sich Ministerpräsident Berov im März einer Herzoperation unterziehen. Er erholte sich rasch und erklärte als Antwort auf die Anschuldigungen Präsident Schelevs, daß seine Begierung zur Stabilisierung im Lande beigetragen habe und er eine Kabinettsumbildung vornehmen werde.

Diese vorgeschlagene Umbildung wurde aber am 20. Mai im Parlament abgelehnt. Nach dem Scheitern hat Präsident Schelev in einer Bundfunkansprache am selben Tag alle Parteien aufgerufen, sich auf vorgezogene Neuwahlen Ende September oder Anfang Oktober dieses Jahres zu einigen. Er habe alle Parteichefs zu Beratungen eingeladen, so Schelev, und ihnen die Bildung einer Übergangsregierung vorgeschlagen. Das sei dringend nötig, weil die politische Krise in letzter Zeit zur „vollständigen Lähmung des Staatslebens” geführt habe.

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