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Vom epochalen Friedenswerk zum großen Scherbenhaufen?

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„Die Vereinten Nationen haben versagt! Sie haben das Morden, Vergewaltigen, Bomben und Schießen in ExJugoslawien nicht verhindern können!” Ist diese oft gehörte Anklage in dieser Form wirklich berechtigt?

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„Die Vereinten Nationen haben versagt! Sie haben das Morden, Vergewaltigen, Bomben und Schießen in ExJugoslawien nicht verhindern können!” Ist diese oft gehörte Anklage in dieser Form wirklich berechtigt?

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Mit gemischten Gefühlen haben Politiker und Medien Ende . Juni den 50. Jahrestag der feierlichen Annahme der UN-Charta in' San Francisco begangen.

Gemischte Gefühle über die Vereinten Nationen, vor allem über den Sicherheitsrat, brachte auch Divisionär Günther Greindl, der „Blauhelm”-Spezialist, in der letzten furche (Nr. 31/Seite 1) zum Ausdruck. Dabei befindet er sich in bester Gesellschaft: es ist üblich, über Schwächen der UN zu klagen oder Empörung zu zeigen. Und doch plädiert auch der langjährige österreichische Blauhelm-General für die Fortführung des österreichischen Engagements bei der Weltorganisation. Viele werden sich dennoch fragen: Hat das Sinn? Wo doch die UNO anscheinend unfähig ist, das zu tun, was man von ihr erwartet: nämlich die Beendigung des Mordens in Bosnien-Herzegowina, in den zwischen Serben und Kroaten umstrittenen Gebieten - und in vielen anderen Konflikt-regionen der Welt auch.

Wie berechtigt Enttäuschung und Empörung wirklich sind, läßt sich nur beurteilen, wenn man sich klar macht, um was es sich bei den „Vereinten Na-tonen” in Wirklichkeit handelt. Was die Organisation kann, und was nicht.

Da muß man sich zunächst erinnern, daß die UN kein Weltstaat sind, mit effektiven Entscheidungsstrukturen, seien sie demokratisch oder autokratisch.

Über eines waren sich die Gründer 1945 einig: die Souveränität der Staaten sollte nicht angetastet werden - vor allem nicht die der Großmächte. So sah man für das wichtigste Organ, den Sicherheitsrat, zwar Mehrheitsbeschlüsse vor, aber die „ständigen Mitglieder”, die fünf Großmächte von damals” erhielten ein Vetorecht: wenn eine von ihnen sich querlegen will, gibt es keinen Beschluß. Das sowjetische „Njet” und zuweilen das westliche „No” sind sprichwörtlich geworden.

Die UNO ist also nicht ein „kollektiver Akteur”, den man für sein Tun und Lassen verantwortlich machen kann -so wie zum Beispiel eine Begierung vor dem Verfassungsgerichtshof. Eher ist sie eine Arena für die eigentlichen Akteure, die Mitgliedstaaten. Vor allem eben für die Großmächte. Wenn eine von ihnen nicht will, geht gar nichts. Deswegen war in den Jahrzehnten des Kalten- Krieges die UNO weitgehend gelähmt, und je schlechter das Klima zwischen einigen der Großmächte wird, desto wahrscheinlicher sind neue Lähmungserscheinungen. Schon jetzt zeigt sich, daß man sich in kritischen Si-tuationennuraufBesolutionen einigen kann, die die eigentlich nötigen Weichenstellungen hinausschieben - wie im Fall Jugoslawiens.

Als klar war, daß die UN die Aufgabe, die ihnen kraft Satzung eigentlich gestellt war, nicht erfüllen konnten, kam man auf eine „Ersatzidee”. Auch

das muß erst noch erläutert werden: ■ Eigentlich sieht die Charta ^Satzung) vor, die UN sorgen dafür, daß es keine Kriege gibt. Den im übrigen souverän bleibenden, das heißt zum Beispiel den Anspruch auf Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten bewahrenden Staaten wurde die Androhung und Anwendung von Gewalt gegen ihresgleichen verboten. Zugleich wurden sie verpflichtet, eine friedliche Begelung von Konflikten zumindest zu versuchen (Verhandlungen, Vermittlung, Unterstellung unter ein Schiedsgericht und so weiter).

Wenn das nichts fruchtet - oder auch, wenn er schon vorher ein Eingreifen für richtig hält - übernimmt der Sicherheitsrat die Verantwortung für die Friedenserhaltung und den Abbau von Gefährdungen der internationalen Sicherheit.

Er ist berechtigt und verpflichtet (!), alles zu tun, was - seiner Einschätzung nach - zur Wahrung der internationalen Sicherheit und zur eventuell nötigen Wiederherstellung des Friedens erforderlich ist. Einschließlich der Anwendung von Zwangsmaßnahmen (von Embargos bis zu militärischen Kampfeinsätzen...).

Nur sofern und solange der Sicherheitsrat nicht entsprechend agiert, haben Opfer von Angriffen das Becht zur Selbstverteidigung. Das heißt: eigentlich sollte Krieg ganz abgeschafft werden, so, wie im innerstaatlichen Leben Gewaltaktionen verboten sind, mit der einen Ausnahme der Notwehr. Aber solche Selbsthilfe ist eben nur erlaubt, wenn keine Polizei am Ort ist, oder solange, bis die Funkstreife eintrifft.

■ Erst als sich im Zuge des Kalten Krieges die Lähmung des Sicherheitsrates herausstellte, wurde die „kollektive Verteidigung” - neben der nuklearen Abschreckung - zum Hauptinstrument der Sicherheitspolitik. Das heißt, Organisationen wie NATO, Warschauer Pakt, Südostasienpakt und andere wurden geschaffen und immer wichtiger. Es herrschte dann der Eindruck, sie und die Nuklearmächte trügen eigentlich die Verantwortung für Frieden und Sicherheit und nicht die Vereinten Nationen.

■ Irgend etwas an sinnvollen Aufgaben wollte man den UN aber doch „zumuten”. Da man sie nun einmal gegründet hatte und finanzieren mußte, lag es nahe, sich zu überlegen: Gibt es nicht

doch sinnvolle, bewältigbare Aufgaben? Das Kapitel VII der Charta (umfassende Verantwortung des Sicherheitsrates für die Weltsicherheit) lief, infolge der Lähmung, leer.

Das Kapitel VI (Friedliche Streitregelung) war ein Softie-Programm. Das heißt, es wurde nur von schwächeren Staaten in Anspruch genommen, und/oder nur bei relativ harmlosen Konflikten, wo nicht wirklich Lebenswichtiges auf dem Spiel stand. (Abgesehen von den Fällen, da kleinere Staaten von den größeren so gut wie genötigt wurden, sich der entsprechenden Instrumente zu bedienen...)

So erfand man das „Kapitel sechseinhalb”, die sogenannten „friedenserhaltenden UN-Einsätze”.

Sie kommen in der Charta überhaupt nicht vor; kämen sie vor, dann würden sie logisch irgendwo zwischen friedlichen Verhandlungsbemühungen (Kap. VI) einerseits und „harten” Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens (gewaltsamen Polizeiaktionen sozusagen) andererseits (Kap. VII) einzuordnen sein. Daher „sechseinhalb”.

Es ging also um „Blauhelm”-Ein-sätze von Soldaten, die aber nicht

kämpfen, sondern durch ihre bloße Anwesenheit Schlimmes verhindern sollten, und zwar zunächst im Anschluß an stillgelegte Konflikte (also wenn ein Waffenstillstand erreicht war).

Die ursprünglichen Hauptaufgaben waren:

■ „Observation”: Waffenstillstand beobachten, also mit hochgezogenen Augenbrauen überwachen und dadurch die Verfeindeten von riskanten Handlungen (Bruch der Waffenruhe, aber auch Übergriffe gegenüber Zivilisten und so weiter) abhalten.

■ „Interposition”: Dazwischengelegt-Werden, also zwischen die bislang gegeneinander kämpfenden Truppen, im Sinne eines Puffer-Zwischengürtels, damit die Verfeindeten gar nicht aufeinander losschlagen können.

Das erwies sich als eine ausgezeichnete Idee. Es kam im Laufe der Jahrzehnte zu zahlreichen Blauhelmeinsätzen mit segensreicher Wirkung. Bekanntlich erhielten die Blauhelme vor einigen Jahren den Friedensnobelpreis. (Das österreichische Bundesheer war stolz darauf, Osterreich hatte schon immer bei solchen Einsätzen mitgemacht: Zypern, Golanhöhen...)

Gleich bei der Erfindung der Friedenserhaltung-Einsätze der UN wurde festgelegt, daß sie nur stattfinden können, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt waren:

1. Keine Kampfhandlungen mehr („Peace keeping”, also Aufrechterhaltung des Friedens, nicht „Peace-ma-king”, seine Herstellung).

2. Zustimmung beider beziehungsweise aller Konfliktparteien (in der Regel sind es bei zwischenstaatlichen Konflikten zwei gegeneinander kriegführende Staaten).

3. Kein Einfluß auf die „Konfliktlage”, nur vorläufige Stillhaltesicherung. Das heißt, es müssen gleichzeitig politische Konfliktlösungsbemühungen im Gange sein.

4. Strikte Unparteilichkeit der Blauhelme, keine einseitige Begünstigung einer der verfeindeten Seiten.

5. Keine aktiven Kampfhandlungen, Waffeneinsatz allenfalls zur Selbstverteidigung (und daher nur Ausrüstung mit leichten Waffen, also gegen kleine Banden, versprengte Verrücktgewordene ...). Ein größerer Kampfeinsatz gegen eine der stillgelegten Kriegsparteien erschien unvorstellbar.

Aber die Blauhelmeinsätze waren eine so gute Sache, daß man von dieser Erfindung auch unter Umständen Gebrauch machen wollte, in denen die obigen Bedingungen nicht mehr ganz so strikt gelten, und daraufhin wurde das Konzept ausgeweitet.

Die UN nahmen sich nach einiger Zeit auch „innerer” Konflikte (Bürgerkriege) an, entgegen dem Nichteinmischungsprinzip, mit der Begründung: der Konflikt würde die Sicherheitin einer ganzen Region gefährden, also die internationale Sicherheit.

Da wurde es dann schwierig, zu entscheiden, wie es mit der Zustimmung aller beteiligten Parteien gehalten werden soll: es handelte sich nicht mehr um völkerrechtlich anerkannte Staaten, sondern um Akteure in der Grauzone zwischen „Staat” und „bewaffneter Bande”.

Es kam zur Verlegung von UN-Truppen in Regionen, in denen der Waffenstillstand noch keineswegs gesichert war. Das waren zum einen Chaos-Regionen, wo sonst überhaupt niemand imstande gewesen wäre, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, mangels funktionierendem Staatsapparat. Typisch dafür der Einsatz in Somalia: Die Medienberichte über Bürgerkrieg und Massensterben lösten Beschlüsse der UN aus, eine Friedenstruppe zu stationieren. Das erwies sich jedoch als undurchführbar. Nun boten die USA den UN an, die Aktion zusammen mit anderen Ländern durchzuführen. Der Sicherheitsrat nahm an; es gelang trotzdem nicht, im ganzen Land den Frieden wieder herzustellen.

Zum anderen aber stationierte man Blauhelm-Einheiten unter außergewöhnlichen Umständen auch in Kriegsregionen; das aktuellste Beispiel war „UNPROFOR”, die „UN Protection Force” - nicht zur Überwachung eines Waffenstillstandes, sondern zum polizeilichen Schutz von Transporten humitärer' Hilfsgüter in belagerte Städte (wie Sarajewo) und Regionen.

Es gab aber schon bald Diskussionen darüber, ob die Aufgabe der UN-Truppen nicht ausgeweitet werden sollte. Ob sie nicht zum Beispiel den Belagerungsring um Sarajewo sprengen sollten. Das hätte den Übergang von der „Friedenserhaltung” und der Sorge für humanitäre Aktionen zur Kriegführung bedeutet.

Je mehr Grauzonen zwischen Krieg und Bürgerkrieg aufkommen, und je stärker sich die Grauzonen zwischen Krieg beziehungsweise Bürgerkrieg und Frieden entwickeln, desto problematischer wird die ganze Sache.

Das alles waren und sind Entwicklungen, die das Geschäft für die UN schwieriger machen und mit denen die Gefahr verbunden ist, daß sie sozusagen auf eine schiefe Ebene geraten. Man läßt sich in einen Konflikt involvieren, wird immer mehr hineingezogen, kann nicht mehr für die Aufrechterhaltung der vorhin skizzierten Bedingungen sorgen und gerät in Zwickmühlen, wie in Ex Jugoslawien:

Blauhelme stehen da, wo ethnische Säuberungen durchgeführt werden, das heißt, die zu „säubernde” Volksgruppe wird vertrieben. Es gibt Scharfschützen, die womöglich in den Zug hineinschießen. Soll der lokale Blauhelmkommandant nun den Abziehenden Feuerschutz geben, das heißt dafür sorgen, daß sie relativ gefahrlos abziehen können? Dann heißt es: er leistet der ethnischen Säuberung Vorschub. Gibt er Feuerschutz, dann heißt es: er stellt sich auf die Seite der von Vertreibung betroffenen Volksgruppe. Er darf aber niemanden begünstigen!

Da per definitionem alle Konfliktparteien zustimmen müssen, sind sie Verhandlungspartner. Man muß also mit „Kriegsverbrechern” und anderen Machthabern zweifelhafter Legitimität verhandeln, samt abschließendem „Handshake”, was anderswo Kopfschütteln oder Entsetzen auslöst.

Keine schöne Lage - nachdem vor rund fünf Jahren, gerade als Ost und West ihr Kriegsbeil begraben hatten, die UN ihre Lähmung scheinbar überwunden hatten. Als nämlich die Besetzung Kuweits durch Saddam Hussein tatsächlich eine Reihe immer härterer Sicherheitsratsresolutionen auslöste, bis hin zum „grünen Licht” für die „Operation Desert Storm”.

Heute gibt es Anlaß zur Besorgnis, was aus den UN werden wird (Seite 7).

1) Die USA, die Sowjetunion (an deren Stelle später die Russische Fäderation trat], Großbritannien, Frankreich und China (1945 noch das „Nationalchina” Tschiang-Kai-Schecks, später die kommunistische Volksrepublik).

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