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Von Eisenach nach Godesberg

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DER FREIHEITLICHE SOZIALISMUS IN DEUTSCHLAND (Das Godesberger Grundsatzprogramm der SPD in katholischer Sicht). Von Gustav E. Kafka. Verlag Bonifaciusdruckerei, Paderborn 1960. 184 Seiten. Preis 6.20 DM.

Der Verfasser ist nicht nur an der Universität Mainz Dozent für Staatslehre und Verfassungsrecht, sondern im Hauptberuf der Referent für staatsbürgerliche Angelegenheiten im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, ein Umstand, der seiner Publikation ein ganz besonderes Gewicht verleiht.

Das vorliegende Buch ist nicht eine der vielen langweiligen antisozialistischen „Abrechnungen”, nicht eine Kritik um der Kritik willen, sondern eine reich mit Beleghinweisen versehene Analyse des neuen, in Godesberg beschlossenen Programms der Sozialisten, eine Konfrontation sozialistischer Selbstzeugnisse mit den Dokumenten der katholischen Soziallehre.

Der Autor, welcher geradezu Zeile für Zeile das Godesberger Programm mit den jeweils in Frage kommenden Lehrmeinungen abstimmt, stellt fest, daß das neue Programm von formalen Grundwerten ausgeht, von substanzlosen Begriffen, die man unschwer auf den orthodox-liberalen Ursprung zurückführen kann. Anderseits darf nicht übersehen werden, daß die deutschen Sozialisten in ihrem Programm darauf hinweisen, daß der Sozialismus Europas unter anderem auch in der christlichen Ethik wurzelt. Gerade dieser Verweis ist für Kafka der Anlaß, im Sozialismus, wie er sich ihm darbietet und bisher dargeboten hat, eine christliche Häresie zu sehen. Wie immer man das Wort „Häresie” deuten mag, nach Ansicht des Referenten ist der Tatbestand, daß sich ein Sozialismus in seinem Programm auf einen christlichen Ursprung bezieht, also seinen Ursprung in frühsozialistischen, wenn nicht christlich-sozialistischen Denkweisen sucht, zumindest bemerkenswert, auch dann, wenn es sich nur um eine Geste handeln sollte, die zu machen der Sozialismus aber seit hundert Jahren peinlich vermieden hat.

In seinem Versuch, sich an die gewandelten Umweltbedingungen und Wahlchancen anzupassen, hat sich der deutsche Sozialismus dem Gedanken einer Errichtung der „Diktatur des Proletariats” eindeutig abgeschworen und sich der Demokratie verschrieben, die er freilich zum Rang eines Wertes an sich erhebt, was zum „Demokratismus” führt. Gleiches gilt für die Toleranz, zu der sich die deutschen Sozialisten freilich nur so weit bekennen, als sie nicht geeignet ist, gegen die SPD selbst in Geltung gebracht zu werden.

Ehedem gingen die deutschen Sozialisten davon aus, daß die Ursünde, die eine gesellschaftliche Unordnung begründet hat, das private Eigentum an den Produktionsmitteln sei. Die Erfahrungen mit dem realisierten Sozialismus haben auch die deutschen Sozialisten verstehen gemacht, daß nicht das Eigentum, sondern nur die Eigentumsmacht „böse” sein kann. Daher werden die kleinen und mittleren Unternehmungen aus der Verantwortung entlassen. Der Schuldspruch bleibt nur auf den Großunternehmungen privaten Rechtes haften, die durch gemeinwirtschaftliche Eigentums- (Unternehmungs-) Formen ersetzt werden sollen. Wo aber noch Entscheidungsmacht bei Unternehmungen des privaten Bereiches vorhanden ist, soll sie unter Kontrolle genommen werden.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht, wie nicht anders zu erwarten gewesen, die Frage, wie sich der Sozialismus in seiner neuen programmatischen Darstel- lung.sweise zur katholischen Kirche stellt. Trotz allem, was im Programm zur Frage von Kirche und Religion gesagt, ja noch mehr, was nicht gesagt wird: Welch ein Unterschied gegenüber dem Ursprung des Parteisozialismus! Der Verfasser bietet eine Abfolge der Programmäußerungen der deutschen Sozialisten zur Frage von Kirche und Religion, beginnend mit 1869 (Eisenach) bis Godesberg. Zuerst wird die Kirche als jenseits der Gesellschaft befindlich disqualifiziert. Jetzt wird sie in die Gesellschaft „heimgeholt”. Freilich nicht in einer akzeptablen Weise. Und hier setzt die Kritik des Autors an. Die Prä senz der Kirche in der Gesellschaft wird auch von der SPD bejaht, aber nicht einer freien Kirche in einer Gesellschaft der Freien, sondern einer Kirche, die unter Kontrolle gehalten wird, einer Kirche, die,

als „Staatskirche”, von einer „Kultpolizei” überwacht, dem Sozialismus dienstbar ist, geeignet, in einer Art „Narrenfreiheit” kritische Aussagen zu machen.

Wie weit kritisiert werden darf, bestimmt die sozialistische Gesellschaft! Jede Form von Kritik der Demokratie (= Lebensform des Sozialismus) ist faktisch Hochverrat. Die Kirche darf daher die Partei ,. .. . in ihrer Politik nie stören” (S. 135). Also auch dann nicht, wenn sich die Partei als Ganzes offen zu atheistischen Verhaltensweisen bekennt. Wie das zu verstehen ist, kann man in der Bundesrepublik in der Frage der (atheistischen) Jugendweihe erkennen. Nur ein Beispiel: In Lünen hat der von der SPD beherrschte Stadtrat für nur sieben „Weihlinge” mit Steuergeldern das Stadttheater gemietet und dort, sinnigerweise zu Ostern, eine „Jugendweihe” in Szene gesetzt, die in der Bundesrepublik nicht den Charakter einer parteiamtlichen Reifeerklärung hat, sondern bewußt gegen die christlichen Kirchen gerichtet ist.

Wenn nun schon vom Verhältnis von Kirche und Sozialismus die Rede ist, ob in einem Programm oder in der Praxis des politischen Alltags, muß festgehalten werden, daß die Gesprächs- oder Kontroverspartner sich nicht auf gleicher Ebene befinden. Dieser Tatbestand macht nicht nur ein Gespräch, sondern auch die Auswertung gewonnener Ergebnisse besonders schwierig. Auf diesen Umstand wurde auf dem Parteitag in einer bemerkenswerten Weise hingewiesen, wie anderseits der Autor auch zu verstehen gibt, daß in der gegenwärtigen bundesdeutschen Situation die Frage von Katholizismus und SPD zugleich auch eine Frage von Katholizismus und den anderen Parteien darstellt. Eine Disqualifikation des deutschen Sozialismus 1960 ist noch nicht eine geradezu gegengleiche Billigung des Verhaltens der anderen Parteien. Ebensowenig will der Autor den Sozialismus für alle Zeiten als atheistisch, laizistisch oder weltanschaulich nichtssagend abgestempelt haben. Worum es Kafka geht, ist eine Analyse des Sozialismus, wie er sich ihm in literarischen Selbstzeugnissen darstellt. Der Sozialismus ist nicht nur wegen der Umweltbedingungen im Wandel, der Wandel ist ihm arteigen. Wenn also der Sozialismus (einmal) an Stelle von Ideologien seine Anhänger (auch) auf die ewigen Wahrheiten verweist, ist er eine „Partei wie jede andere” (gemeint sind wohl sogenannte „bürgerliche” Parteien).

Zusammenfassend gilt: Der . deutsch Katholizismus kann von keiner Partei — es sei denn, sie deklariert sich als ausgesprochen katholisch — verlangen, daß sie sich in ihrer Programmatik eindeutig auf das christliche (katholische) Naturrecht festlegt. Ein solches Verlangen zu stellen, wäre nach Ansicht des Referenten unrealistisch. Soll aber eine Partei für den Katholiken akzeptabel sein (mehr ist ohnedies nicht möglich!), muß verlangt werden, daß sie in ihrem Handeln und in ihrer Programmatik nicht völlig vom Naturrecht absieht und — wie dies im letzten Programm der SPD im Wesen noch der Fall ist — lediglich von Ideen ausgeht, die menschliche Programmierungsgremien formuliert haben.

Der Rang des Verfassers und die hohe Qualität der Schrift machen das Buch zu einem der gewichtigsten Dokumente in dem nicht mehr abzubrechenden Gespräch zwischen Katholiken (nicht der Kirche) und den Sozialisten, soweit diese den Ursprung des Sozialismus in der christlichen Ethik suchen und auch finden können.

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