Von "Kohls Mädchen" zur deutschen "Mutti"

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Angela Merkel dürfte auch nach den Bundestagswahlen im Herbst Regierungschefin bleiben. Unmut regt sich dennoch, zumal in den eigenen Reihen. Ein Sammelband spiegelt die Enttäuschung konservativer und liberaler Kreise über die Langzeitkanzlerin wider.

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Angela Merkel dürfte auch nach den Bundestagswahlen im Herbst Regierungschefin bleiben. Unmut regt sich dennoch, zumal in den eigenen Reihen. Ein Sammelband spiegelt die Enttäuschung konservativer und liberaler Kreise über die Langzeitkanzlerin wider.

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Nicht nur für ihre Gegner ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die personifizierte inhaltliche Leere. Keiner weiß so recht, von welchen Werten sie geleitet wird. Doch eins ist klar: Sie wäre nicht seit dem Jahr 2000 Vorsitzende der einst konservativen Christlich Demokratischen Union, und sie wäre erst recht nicht seit 2005 Kanzlerin des mächtigsten Landes der EU, wenn sie nicht ein überaus feines Näschen für politische Witterungen hätte.

Ihre Berater und auch ein Großteil der lammfrommen und stromlinienförmigen Journalisten des Landes haben das Bild einer kühlen Vernunftpolitikerin gezeichnet. Merkel denke als Physikerin die Dinge immer vom Ende her. Nichts ist falscher als diese Aussage. Angela Merkel regiert immer so, wie es die Mehrheit des Volkes will. In der Rückschau stellen sich der Abschied von der Wehrpflicht, der Ausstieg aus der Atomenergie und die als "Willkommenskultur" verbrämte Weigerung der Kanzlerin, die deutschen Grenzen schützen zu lassen, als situative Entscheidungen heraus. Zum jeweiligen Zeitpunkt ihrer Entscheidungen folgte Merkel ihrem Bauchgefühl, der augenblicklichen Mehrheitsmeinung der Deutschen und der Lust und Laune der maßgeblichen Journalisten.

Alle drei Entscheidungen haben sich als katastrophale Fehler erwiesen. Nur beim Thema Flüchtlinge hat Merkel schnell erkannt, dass sehr bald Schluss war mit der hysterischen Willkommenskultur. Sie schlägt zwar oft Haken wie ein Hase, doch würde sie das niemals öffentlich zugeben. Und so lässt sie die Türken und andere kleinere Länder die Drecksarbeit machen. Offiziell hat sie ihre eigenmächtige Politik der Grenzöffnung, die Europa in schwere Bedrängnis gebracht und die Briten wahrscheinlich aus der EU getrieben hat, nie korrigiert. Und so weiß keiner eine Antwort darauf, was sie tun würde, wenn noch einmal ein großer Ansturm von Flüchtlingen an den deutschen Außengrenzen zu verzeichnen wäre.

Vom hohen zum "hohlen" C

Philip Plickert, Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen, unterzieht wenige Monate vor der deutschen Bundestagswahl Merkel nun einer kritischen Bilanz. Für ihn ist Merkel "ein Scheinriese, eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin". Plickerts Buch ist Ausdruck der Enttäuschung konservativer und liberaler Kreise über die Kanzlerin. Auch aus liberaler Perspektive waren die zwölf Merkel-Jahre verlorene Jahre. Denn mit einer Steuer-und Abgabenquote von fast 50 Prozent für einen Normalverdiener liegt das Land auf dem zweithöchsten Niveau aller Industrieländer.

Und auch die Konservativen und Christen können mit der Politik der Kanzlerin nicht zufrieden sein. So kritisiert der Sozialethiker Wolfgang Ockenfels, selbst seit Jahrzehnten Mitglied der CDU, dass aus dem hohen C der Partei ein "hohles C" geworden sei. Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz widmet sich dem asexuellen und uncharismatischen Stil der Kanzlerin. Nach den Rock 'n'Rollern und Streetfighting Men (gemeint sind Außenminister Joschka Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder) "kam die Mutti eines neuen Biedermeier". Dass bei der Bundestagswahl im September 2017 wahrscheinlich wieder eine Mehrheit bei "Mutti" ihr Kreuzchen machen wird, erklärt Bolz wie folgt: "Diese Rhetorik der Alternativlosigkeit hat für viele Menschen natürlich einen Entlastungseffekt. Man muss nur Mutti folgen, dann ordnet sich die Welt. Aber diese Rhetorik hat eben auch den Effekt, dass sich innerhalb der CDU und der Regierung gar kein Alternativbewusstsein mehr bilden kann."

Unter der schönen Überschrift "Von der Mutti Germaniae zur Minusfrau" widmet sich der Publizist Andreas Unterberger (der einzige Österreicher unter den Autoren; Anm.) seinem Gegenstand und beleuchtet, wie Merkel in Österreich gesehen werde. Früher war alles in Butter zwischen Berlin und Wien, zumindest aus Sicht der Kanzlerin. "Wenn Werner Faymann zu mir kommt, hat er keine Meinung. Wenn er hinausgeht, hat er meine." Das hat die vorsichtige Merkel wahrscheinlich so nie gesagt, trifft aber das Verhältnis der beiden recht gut. Doch die eigenmächtige und den anderen EU-Ländern gegenüber sehr rücksichtslose Politik Merkels habe letztlich "zum emotionalen Bruch zwischen beiden Ländern geführt". Plickerts Buch ist eine spannende Lektüre für Merkel-Fans und -Gegner. Die Kanzlerin würde die versammelten Aufsätze wahrscheinlich als "nicht hilfreich" milde tadeln.

Merkel Eine kritische Bilanz Von Philip Plickert (Hg.) Mit Beiträgen von Thilo Sarrazin, Necla Kelek, Cora Stephan, Norbert Bolz, Roland Tichy u. a.

Finanzbuchverlag 2017,256 S., geb., € 19,99

Der Autor ist Fraktionsgeschäftsführer der CDU in der NRW-Stadt Remscheid und lebt und arbeitet als freier Publizist in Bonn

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