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Vor dem Referendum

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Um den Zustand Frankreichs vor dem Referendum vom 28. September zu umschreiben, muß dreierlei hervorgehoben werden. Erstens einmal findet man kaum einen ernsthaften Beobachter, der an einer Ja-Mehrheit zweifelt — man diskutiert nur noch darüber, ob die Minderheit der Neins erheblich sein wird oder nicht. Es herrscht ferner kurz vor dem Referendum in Frankreich immer noch die gleiche Gleichgültigkeit wie zur Zeit des 13. Mai; die Franzosen scheinen wirklich nicht der Meinung zu sein, sich in einer Schicksalsstunde zu bewegen. Daß diese Gleichgültigkeit teils die Züge der Apathie, teils optimistischer Sorglosigkeit annimmt, macht nicht viel Unterschied. Schließlich fällt auf, daß es in der französischen Innenpolitik — vom kommunistischen Nein zum Referendum immer abgesehen — zur Zeit keine auch nur annähernd klare Fronten gibt. Diese drei Wesenszüge gehören zusammen.

Um den Text der Verfassung, die am 28. September angenommen oder abgelehnt werden soll, kümmert sich, genau besehen, niemand (mit Ausnahme natürlich der Verfässungsspezia-listen). Man nimmt sie einfach nicht ernst. Ist das Leichtsinn oder Realismus? Der Franzose scheint sich zu sagen, daß man noch jede Verfassung habe biegen können. Und ein Verfassungsjurist, Professor Maurice Duverger, hat es bereits als selbstverständlich hingestellt, daß gewisse Verfassungsparagraphen — so der umstrittene Diktaturparagraph und die Unvereinbarkeit von Parlamentsmandat und Ministeramt — sofort abgeändert würden, wenn de Gaulle einmal von der Bühne abtrete. (Die Verfassungsrevision ist denn auch nach dem endgültigen Text ein relativ leicht zu bewerkstelligender Prozeß.) Kurzum: es geht beim Referendum gar nicht um den Verfassungstext — es geht um de Gaulle — in Frankreich, versteht sich. Denn im „Schwarzen Afrika“ wird das Referendum praktisch zu einem Entscheid für oder gegen das Verbleiben in der Französischen Union, und in Algerien dreht sich alles darum, ob dieses Land wirklich ein integrierender Bestandteil von Frankreich sein soll.'

Aber wenn sich doch alles um de Gaulle dreht — warum schafft denn nicht das zum mindesten klare Fronten? Nun, je länger de Gaulle an der Regierung ist, desto mehr verschwimmen seine Umrisse. Es ist sichtbar geworden, daß der de Gaulle von 1958 nicht mehr der herrisch unbedingte de Gaulle von 1944 ist. Der General ist verbindlich, umgänglich geworden, und außerhalb der kommunistischen Minderheit nimmt im Grunde niemand mehr an, daß er Diktator werden wolle. Es scheint ihm vielmehr ein patriarchalisches Schiedsrichteramt mit gemäßigt autoritärem Unterbau vorzuschweben. Welche praktische Politik er jedoch inspirieren will — das kann niemand genau sagen. Gerade das aber ist es, was die Verwirrung in die französische Politik hineinbringt. Man kann aus sich völlig widersprechenden Gründen für de Gaulle sein, und man kann aus ebenso sich widersprechenden Gründen gegen ihn sein.

Anders formuliert: In der Mehrheit, die heute hinter de Gaulle steht, machen seinc wirklichen Anhänger im Grunde nur eine Minderheit aus. Für den größeren Teil ist er einfach das „kleinere Uebel“, oder man ist für ihn, weil es keine Alternative zu geben scheint.

Daran aber ist die lebensgefährliche Spaltung Frankreichs in zwei völlig verschiedene Hälften schuld. Im Mutterland ist zweifellos der überwiegende Teil des Volkes republikanisch eingestellt und will keine extremistischen Abenteuer, weder von roter noch von weißer Färbung. Allerdings ist die Gleichgültigkeit hier die Regel. Das macht, daß die Million von Algerienfranzosen, die zahlenmäßig daneben eigentlich nicht ins Gewicht fallen sollten, dank ihrer aktivistischen Entschlossenheit eben doch als „andere Hälfte Frankreichs“ ins Gewicht fallen. Zwar wollen auch die Franzosen jenseits des Mittelmeeres nichts anderes als ihre Brüder in der „Metropole“: nämlich die Bewahrung des „Status quo“. Aber der ihre ist durch die Unabhängigkeitsbewegung der Algerier bedroht. Dadurch erst sind sie zu „Aktivisten“ geworden — Aktivisten mit dem Rücken zur Wand. Und diese beiden Hälften Frankreichs, die sich mehr und mehr auseinanderleben, werden nur noch durch zweierlei zusammengehalten: durch die Person de Gaulles und durch die rittlings auf beide sich stützende Armee. Das ist wohl auch der Hauptgrund für die seltsam zögernde und lavierende Politik de Gaulles.

Es fragt sich aber, ob mit ihr der Zusammenprall der beiden Frankreich verhindert werden kann. Je mehr die Metropole vor der Kraftprobe zurückscheut, desto stärker wird drüben die Verlockung, die Kraftprobe in umgekehrter Richtung zu versuchen. Allerdings wissen die „Ultras“ in Algier, daß sie dazu der Patronage de Gaulles bedürftig sind: träte der „Franquis-mus“, den man drüben vorbereitet, unverhüllt auf, so würde er wohl in der „Metropole“ sofort eine einheitliche Abwehrfront provozieren. Aus diesem Grunde halten die „Ultras“ in der Oeffentlichkeit vorerst noch zu de Gaulle, obwohl sie ihn insgeheim bereits zum Feind erklärt haben: „Naguib“ soll „Nasser“ den Weg bereiten ...

Diese Lage muß man vor Augen haben, wenn man die beiden Erpressungen nüchtern beurteilen will, mit denen die Ja-Mehrheit zusammengeschmiedet wird: die Erpressung mit den „Obersten“ und die Erpressung mit dem Bol-schewistenschreck. Die erstere lautet: Wenn de Gaulle ginge, so käme die Junta der Obersten von Algier an die Macht. Und die andere heißt: Wer gegen de Gaulle ist, wird zum Bundesgenossen der Kommunisten und arbeitet ihnen, ob er will oder nicht, in die Hand.

Auf die erstere der beiden Erpressungen hat einer der Hauptsprecher im nichtkommunistischen Lager der Gegner de Gaulles in einer Weise geantwortet, die zum mindesten nachdenklich macht. Es ist Jean-Jacques Servan-Schreiber, der junge Direktor des „Expreß“, der dort schreibt:

„Der Ablauf der Ereignisse hat gezeigt, daß de Gaulle keineswegs der .einzige Weg ist, um den Männern von Algier Widerstand zu leisten' — im Gegenteil: er ist für sie die einzige Chance, Frankreich zu ihrer Politik zu nötigen. Wer anders als er könnte heute noch die Metropole dazu bewegen, die unbegrenzte, ruinöse und ausweglose .Politik der Befriedung' in Algerien zu unterstützen? Sicher weder de Serigny noch Soustelle noch Massu. Ohne de Gaulle wären sie ein für alle Mal auf das reduziert, was sie sind: mächtig in Algerien, aber isoliert in Frankreich, wo der Faschismus unorganisiert ist, wo der Algerienkrieg verurteilt und abgelehnt wird, wo die ungeheure Mehrheit der Bürger jedem Versuch zu einer Militärdiktatur sofort widerstehen würde — sofern er nicht von dem einzigen Mann gedeckt würde, dessen Prestige imstande ist, die republikanischen Abwehrreflexe zu paralysieren. Im übrigen, was am 13. Mai wahr war und heute wahr ist, ist es morgen schon weniger. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr ist es den Männern von Algier möglich, unter der Autorität von de Gaulle- ihre Stellung zu stärken und sich in neue Stellungen zu infiltrieren. Für heute aber wie für gestern kann es nur eine Art und Weise geben, das Land von der Drohung der .Ultras' zu befreien: nämlich ihnen Widerstand zu leisten, nicht jedoch (wie de Gaulle es tut), sich mit ihnen zu arrangieren. Wenn die 10. Fallschirmjägerdivision im Ernst glaubt, sie könne in Frankreich einen Putsch machen und sich an die Macht bringen, so soll sie es versuchen. Es wäre die schnellste und endgültigste Methode, die Stupidität eines solchen Vorhabens vor aller Welt vorzudemonstrieren.“ Was die andere Erpressung betriffft — den Bolschewistenschreck, mit welchem Speck man in dem Mittelstandsland Frankreich schon immer die Mäuse gefangen hat —, so muß man vor allem eines feststellen: nichts könnte den Kommunisten angenehmer sein, als heute das Monopol der Gegnerschaft gegen de Gaulle zu besitzen. Würde dann die heutige „nationale Revolution“, was manche befürchten, mit einem gewaltigen Kladderadatsch enden, so wären sie die einzigen, die Recht gehabt haben. Sie könnten sich nichts Besseres wünschen! Die Versuche bei der sozialistischen Opposition und um Men-des-France, die Abwehr gegen de Gaulle zu organisieren, stellen darum keineswegs eine Hilfestellung für die KP dar — im Gegenteil: Nichts könnte ihr unangenehmer sein als ein größerer Erfolg dieser Gruppen.

Im übrigen fällt immer wieder die Phanta-sielosigkeit der nichtkommunistischen Politiker angesichts der KP auf: sie verhalten sich dabei wie hypnotisierte Kaninchen. Jedermann weiß, daß von dem Viertel der französischen Wähler, die regelmäßig kommunistische Listen einlegen, allerhöchstens zehn Prozent überzeugte Kommunisten sind. Der Rest wählt kommunistisch, um Nein zu den französischen Zuständen zu sagen. Wer wagt endlich den Einbruch in dieses gewaltige Reservoir? Die französische Politik krankt seit vielen Jahren daran, daß es außerhalb der KP (und natürlich des Rechtsextremismus) keine Möglichkeit gibt, entschieden Nein zu sagen. Schließen die Nichtextremisten unter den Gegnern de Gaulles nun wieder Kompromisse, so jagen sie ihre Klientel geradezu in die Arme Moskaus.

Gewiß gibt es noch andere Argumente für oder gegen de Gaulle. Beispielsweise muß anerkannt werden, daß er auf seiner Reise durch das „Schwarze Afrika“ in mutiger Weise den Prozeß der „Entkolonisierung“ eingeleitet hat. Er war ja auch der einzige, der sich das leisten konnte — ein Mendes wäre für die gleichen Worte gelyncht worden. Aber alles südlich der Sahara Unternommene ist auf Sand gebaut, solange das Algerienproblem keine Lösung gefunden hat. Und wie sich de Gaulle hier verhält, ist bereits ausgeführt worden. Hier muß jedoch angepackt werden, denn hier liegt für die nähere Zukunft nun einmal der Schlüssel zu allen französischen Problemen.

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