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Vor einer Sternstunde des deutschsprachigen Buches?

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So mancher wird beim Lesen der Ueberschrift dieses Artikels ’den Kopf schütteln. Die große wirtschaftliche Konjunktur, die Deutschland und Oesterreich erfaßt hat, und die auch vor dem Sektor des Buches nicht halt gemacht hat, muß jeden Gedanken an das Herankommen einer Stunde, die für das Geschick des Buches entscheidend sein könnte, als absurd ansehen.

Tatsächlich befinden wir uns im Zeitpunkt einer Massenproduktion von Büchern. Die Frankfurter Messe zeigt alljährlich rund 20.000 Neuerscheinungen deutscher und österreichischer Verlage. Damit sind allerdings noch nicht die 35.000 Neuerscheinungen des Jahres 1913 erreicht, aber bereits die Produktion des Verlagswesens vor rund 30 Jahren weit überflügelt.

• Wir befinden uns aber nicht nur in einem Zeitalter der Massenerzeugung von Büchern, sondern auch in einem Zeitpunkt des Massenabsatzes von Büchern. Ungleich mehr Schichten als noch vor drei Jahrzehnten interessieren sich für Bücher und kaufen Bücher. Wir befinden uns nicht mehr in einem Zeitalter dös „Aufstandes der Massen“, sondern des Aufstieges der Massen. Und in diesem Zeitalter scheint das Buch auch die Massen zu erobern. Dennoch darf diese Konjunktur noch nicht überschätzt werden. Das deutsche Institut für Volkstumsfragen hat durch eine Rundfrage vor einiger Zeit festgestellt, daß jeder zweite Erwachsene in der 'westdeutschen Bundesrepublik ’ü b e r h a u p f k ö i n Büch besitzt. 34 Prozent haben überhaupt noch nie ein Buch gekauft. 44 Prozent bekannten, daß sie noch nie ein Buch gelesen hätten.

Das heißt mit einem Wort, daß die Konjunktur des Buches heute zwar hoch ist, dennoch mit der Konjunktur anderer Waren nicht gleichen Schritt hält. Insbesondere fällt die Konjunktur des Buches weit hinter die Konjunktur aller jener Waren zurück, die heute das Ideal des Standards bilden, den man unter allen Umständen erreichen muß. Dazu gehören bekanntlich die Motorfahrzeuge in allen ihren Graden, alle Formen des Radios, der Plattenspieler, ein Fernsehapparat, alle Formen von Photoapparaten, dazu gehören alle Gegenstände fürs Camping und das Reisen überhaupt. Nach diesen Gegenständen gehört zum heutigen Standard erst die schöne und für den Bedarf des einzelnen und seiner Familie geräumige Wohnung, womit nichts anderes ausgedrückt ist, als daß die Gegenstände, die nach den heutigen Begriffen den Luxus darstellen, vor den Gegenständen des normalen täglichen Lebens einen Vorzug genießen. Diese Sehnsucht weiter Kreise, das kurz gezeichnete Ideal des Standards zu erreichen, muß von allen jenen, die mit Büchern hauptberuflich zu tun haben, also in erster Linie den Verlegern und Buchhändlern, mit einem feuchten und einem fröhlichen Auge betrachtet werden. Denn diese Sucht, den Idealzustand des Standards zu erreichen, ist eine der vielen Bremsen, die eine große Wirtschaftskrise verhindern, wie wir sie 1929 und in den folgenden Jahren erlebt haben. Diese Krise entstand ja dadurch, daß zuviel Geld und zuwenig Waren vorhanden waren, sie war eine Haussekrise, keine Baissekrise. Durch die Jagd nach dem Idealzustand des Standards werden aber ständig ungeheure Summen abgeschöpft und eine Haussekrise vermieden.

Mancher wird fragen, was denn dies alles mit dem Buch zu tun habe Das hat tatsächlich viel damit zu tun. Denn eine Konjunktur desBuchesgibtesimmernur, wenn es eine noch viel größere Konjunktur der anderen Waren gibt.

Aber diese Konjunktur hat von zwei Seiten her eine besondere kaufmännische Bedeutung für das Buchgeschäft. Jeder Buchhändler weiß heute zu berichten, einen welch wichtigen Bestandteil für sein Geschäft alle jene Objekte einnehmen, die mit dem Reisen Zusammenhängen. Wird von dieser Seite schon der Buch umsatz sehr gefördert, so hängt anderseits der Aufschwung im Buchhandel heute auch vielfach damit zusammen, daß das Buch, viel weitgehender als früher, als Geschenk verwendet wird. Es ist vielleicht vom geistigen Standpunkt aus tragisch zu sehen, eine wie weitgehende Eingliederung der Buchproduktion in die Geschenkmittelindustrie heute erfolgt ist.

Mit dieser weitgehenden Eingliederung der Buchproduktion in die Geschenkmittelindusfrie sind zwei Erscheinungen verbunden, die sehr bedauerlich sind: erstens spielen sich jetzt schon fast 70 Prozent des Buchgeschäfts um Weihnachten ab, und fast jeder Verleger ist gezwungen, nur im Hinblick auf das Weihnachtsgeschäft zu produzieren. Und zweitens ist mit dieser Tatsache noch etwas verbunden, was man vielleicht als „Novitätenfimmel“ bezeichnen könnte, der jedem Verleger und noch mehr dem Buchhändler bekannt ist. Dieser Novitätenfimmel besteht darin, daß der Käufer zu Weihnachten immer nur „neueste“ Ware verlangt, das heißt Bücher, die sozusagen erst in dieser Saison erschienen sind, und alle älteren Bücher als überaltert ablehnt. Weshalb viele Buchhändler nur noch die neueste Ware anbieten. Das hat aber für den Verleger wieder die Rückwirkung, daß er sich nur schwer entschließt, gute Werke neu aufzulegen, und daß er anderseits dauernd erpreßt wird, neue Werke zu produzieren.

Alles, was bisher ausgeführt wurde, schien nur ein Beweis dafür zu sein, daß die Bücherproduktion in einem unerhörten Aufschwung begriffen ist, daß immer weitere Kreise sich für däs Buch interessieren und auch Bücher erwerben, daß diese Produktion, wie oft in solchen hektischen Situationen, ihre schiefen Lagen mit sich bringt, aber doch einem neuen, bisher noch nie erreichten Höhepunkt zustrebe. Eine Produktion, die sich als absolut krisenfest erweise. Gewiß, es gibt. inmitten des deutschen Sprachraumes keine Krise der Produktion, es gibt diese, vielleicht richtiger gesagt: noch nicht, aber es gibt eine Krise — des Lesens. Wohl ist es richtig, daß viel mehr Menschen als früher Bücher kaufen und lesen. Aber bei einer ganz bestimmten Schicht, einer sehr ausschlaggebende Schicht, gibt es eine Krise des Lesens: bei einer Kernschicht allerdings, bei der Intelligenz. Also bei jener Schicht, der die Lehrer, Professoren, Aerzte, Priester, Architekten, Ingenieure, Künstler, Journalisten, Beamten usw. angehören. Sofort kann mit Recht darauf hingewiesen werden, daß die Angehörigen all dieser angeführten Berufe ununterbrochen lesen. Das ist scheinbar richtig. Was aber, so lautet jetzt die Frage: was lesen alle die Angehörigen dieser Schicht heute neben ihrer beruflichen Literatur, einfach weil das Buch ein Bestandteil ihrer Kultur ist? Bei Beantwortung dieser Frage wird man auf ein großes Vakuum stoßen. Denn das Lesen als ein Teil des kulturellen Daseins verschwindet bei der Intelligenz. Warum dies so sei, darauf kann man eine Reihe von Argumenten hören: Erstens liest man genug beruflich, man kann daneben, sozusagen als Luxus, nicht mehr lesen. Dann dürfte man aber auch nie ein Festmahl zu sich nehmen, nur weil man täglich essen muß. Außerdem, heißt der zweite Einwand, wer könnte denn das alles lesen, was jetzt erscheint. Das verlangt wirklich niemand. Denn es ist menschlich ausgeschlossen, daß jeder die Tausende von jährlichen Neuerscheinungen liest. Aber — man geht doch auch nicht in jedes Theaterstück, nicht in jede Ausstellung. sondern nur in jene, die einen interessieren.

Ja, gehen die Einwände weiter, wer hat heute noch von uns gejagten Menschen Zeit, Bücher zu lesen? Dies ist vielleicht einer der perfidesten Einwände. Denn Zeit, wenn wir wollen, haben wir immer. Wenn die heutigen Menschen überhaupt keine Zeit hätten, dann könnten sie doch auch nicht stundenlang auf Fußballplätzen sich herumtummeln, dann dürften sie doch auch nicht ins Theater, in Konzerte, ins Kino, in Ausstellungen, in Vorträge gehen, in alle anderen Spielarten der Kultur. Von dem Besuch der Cocktailparties gar nicht zu reden.

Nur zu oft sagen heute die Menschen, die zur Intelligenzschicht gehören: Wir haben keine Zeit für Bücher, und sagen damit etwas sehr Wahres. Sie haben nämlich Zeit, oft sehr viel Zeit, aber für Bücher haben sie keine mehr. Sicherlich hängt diese Krise des Lesens auch mit der Hinwendung unserer Zeit zum Visuellen zusammen. Jede. Epoche aber, die das Visuelle in den Vordergrund rückt, stellt einen Rückschritt im Denken dar. Und lesen ist unzertrennlich verbunden mit denken.

Ein anderer Einwand, der oft gegen das Lesen gehört wird, ist: man habe kein Geld für Bücher, sie seien zu teuer. Das stimmt auch nicht mehr. Denn die Taschenbücher sind so billig, daß jeder diese Art von Büchern erstehen kann. Aber außerdem hört man den Einwand gegen die teuren Bücher sehr oft nur von Menschen, die im Besitze wertvoller Kameras sind, die Autos haben, die weitö Reisen machen, die herrliche Langspielplatten besitzen.

Wir haben keinen Platz für Bücher, wir haben kein Geld für Bücher, wir haben keine Zeit für Bücher. Sie sind aus unserem kulturellen Leben verschwunden oder im Verschwinden. Natürlich liest die Intelligenzschicht enorm, aber sie liest diese vielen Bücher als Handwerkszeug für ihr tägliches Managerleben. Für das Lösen als Teil der Kultur haben schon viele der heutigen Intelligöfizschicht keine Zeit mehr, einfach weil ihnen der Sinn für diese Art Kultur abhanden gekommen ist, Weil irgendwo, und hier sind wir im Kern der Krise, der Eros zum Büch nicht mehr vorhanden ist. Es ist eine bedenkliche Krise. Sie ist, und dies ist das Seltsame, eine Krise, die auf die Weite des deutschsprachigen Raumes beschränkt ist.

Denn die romanische Welt kennt diese Krise nicht, in Frankreich, in Italien, in Spanien, in allen diesen Ländern wird enorm gelesen und nicht, weil vielleicht das Lesen zur Verbesserung des täglichen Handwerkszeuges gehört, sondern als Teil des kulturellen Lebens. Aber nicht nur die romanische Welt kennt diese Krise nicht, auch England, Holland und Belgien kennen sie nicht. Und ebenso kennt, aus ganz anderen Gründen, die Welt jenseits des Eisernen Vorhanges diese Krise nicht.

Es ist eine gefährliche Krise, die nur versteckt ist durch die enorme Konjunktur sowie durch die Gewinnung weiterer neuer Leserschichten. Sie ist gefährlich für die Kultur überhaupt, wie für Verleger und Buchhändler. Denn wenn nicht immer neues Leben durch Lesen in die Schicht der Intelligenz geschüttet wird, wird sie eines Tages keine neuen Bücher mehr produzieren. Wer nichts bekommt, kann nichts geben. Nur durch ein ununterbrochenes Bereichertwerden kann man Reichtum wieder austeilen.

Es ist eine gefährliche Krise. Sie darzustellen ist allerdings viel leichter, als Ratschläge zu geben, wie ihr wirksam begegnet werden kann. Außerordentlich günstig wäre es, wenn ein Gehirntrust von Verlegern, Buchhändlern, Bibliothekaren und sonst am Buch Interessierten des deutschsprachigen Raumes eine genaue Analyse über die tieferen Ursachen dieser Krise sowie einen genauen Föjdzugsplan erstellen würde, welche Maßnahmen zu ergreifen wären.

Ohne den Ergebnissen dieser „Untersuchungskommission vorzugreifen, geschweige denn ihren Ratschlägen, möchte sich der Verfasser dieser Zeilen dennoch erlauben, einige — allerdings höchst subjektive — Hinweise zu geben, wie seiner persönlichen Meinung nach diese Krise aufgehalten, eingedämmt, ja zum Stillstand gebracht werden könnte.

Einer der Wege wäre, völlig neue Arten der Werbung zu finden. Diese neue Werbunc müßte alle jene Widerstände, die im Unterbewußtsein des Menschen lagern und sich gegen das Lesen wenden, hinwegräumen, und zwar durch'wirksame „Gegenmittel“, die selbst wieder bis ins Unterbewußtsein Vordringen! Eines der Hauptargumente des heutigen Menschen ist die Behauptung, daß er keine Zeit zum Lesen habe. Hier müßte die Werbung ihm- beibringen, daß es gerade das Buch ist, das ihm Zeit schafft, etwa durch den Slogan „Nimm Urlaub vom Fernsehen, lies ein Buch“ oder durch den Werbetext „Benütze die Zeit im Zug und lies ein Buch". Ein anderes Argument gegen das Lesen ist, daß die Bücher zu teuer seien. Hier müßte die Werbung beweisen, daß Bücher vielfach wesentlich billiger. sind als so manche Genußmittel. Ein derartiger Werbetext könnte lauten: „Ein gutes Buch ist billiger als zwei Schachteln Zigaretten“ oder „Auch ein teures Buch ist billiger als dein Wochenkonsum an Alkohol“. Der heutige Trend zum Standard müßte benützt werden, um den Menschen beizubringen, daß er neben Eiskasten und Auto nicht auf das Buch vergessen darf; daß zu jeder neu eingerichteten Wohnung eine kleine Bibliothek gehört. Die große Sehnsucht nach Stille müßte der Werbung wieder die Möglichkeit geben, den Nichtlesern zu sagen: „Schaff dir einen Raum der Stille — durch das Lesen eines guten Buches“.

Es sind dies nur einige wenige, sehr unvollständige Hinweise, welche neue Wege die Werbung gehen müßte, um die Lesemüdigkeit wirksam bekämpfen zu können.

Aber dem Verfasser dieser Zeilen ist es nur zu sehr bewußt, daß alle neuen Wege einer Werbung nicht genügen, um die Krise in ihrer Wurzel zu bekämpfen. Denn — wieder nach seiner höchst subjektiven Meinung — hat diese Krise sehr tiefliegende geistige Ursachen.

Das Seltsame dieser Krise ist — wie schon gesagt wurde —, daß sie in Europa praktisch auf den deutschsprachigen Raum beschränkt ist, wobei ' auch hier noch die deutschsprachige Schweiz .ausgeschlossen werden muß. Welche Ursachen haben gerade im deutschsprachigen Volk zu dieser Krise geführt? Die Antwort, die hier gegeben wird, muß gewiß den heftigen Widerspruch vieler Leser finden, aber der Autor, der zutiefst von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, möchte sie doch nicht verschweigen.

Lesen heißt denken, heißt, sich auseinandersetzen mit Ideen. Denken aber hängt zusammen mit Diskussion. Es gehört wesentlich zum Geist er si?h im Gesprächentfaltet und durch Diskussion lebendig erhält. Das deutsche Volk, teils auch das österreichische, ist diskussionsmüde. Daran ist beim deutschen Volk gewiß die militärische Erziehung schuld, die den Deutschen seit rund 90 Jahren aufgenötigt wurde und ihm die Diskussion mehr oder minder abgewöhnt hat, dank dem Grundsatz, dem der deutsche militärische Gehorsam huldigte: „Diskutiert wird nicht.“ Dazu kam seit 1933, in Oesterreich von 1938 bis 1945, eine Erziehung, die diese Situation noch verschärfte, da sie die Diskussion erst recht verbot, ja geradezu gefährlich werden ließ, da bei jeder Diskussion zwei oder mehr verschiedene Standpunkte vertreten werden können und müssen.

Die romanischen Völker lieben von Natur aus die Diskussion, den angelsächsischen Völkern und allen, die im Kulturkreis derselben liegen, wird die Diskussion systematisch anerzogen, nicht um der Sache an sich willen, sondern eben als Mittel, im Denken Fortschritte zu machen und die Wahrheit zu finden. Eine Sache ist bei diesen Völkern — zumindest theoretisch — so lange nicht erledigt, als sich noch irgendeine Frage darüber ergibt. Im Deutschen hat dagegen das Wort „fragwürdig“ heute noch einen negativen Beigeschmack,' obwohl es doch nichts anderes sagt, als daß eine Sache noch einer „Frage würdig sei“, mithin weiterdiskutiert werden müsse, um ihr endlich auf den Grund zu kommen. Die Folgen einer solchen Erziehung zeigen sich jetzt unter anderem auch in der Lesemüdigkeit des deutschen und österreichischen Volkes. Diese Folgen können nicht von heute auf morgen beseitigt werden, sondern nur durch eine langsame Erziehung. Wahrscheinlich in erster Linie durch eine Verbreiterung der humanistischen Erziehungsformen, wie es das alte klassische Gymnasium darstellt. Eine gute - eine „klassische" - Bildung aber ist undenkbar ohne Bücher. Denn Bücher sind es, die sie wieder und wieder verbreiten, Bücher sind es, deren Inhalt Stoff zum Nach denken und zu Diskusionen gibt. Wer diese echte Bildung besitzt, muß auch den Eros zum Buch haben. So wird die Beseitigung dieser Krise wieder vielfach den Weg über Bücher gehen, deren Sternstunde im deutschsprachigen Raum somit gekommen ist. Das alte lateinische Sprichwort „Habent sua fata libelli" wird mehr denn je seine Geltung besitzen.

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