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Vorsicht: „Sterngucker“!

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Die gemeinsame Arbeit an dem Zustandekommen eines zeitgerechten Budgets hat in der österreichischen Wählerschaft wieder etwas Hoffnung und Vertrauen entstehen lassen. Es wird nun Aufgabe der Parteiführungen sein, diese Stimmung des Volkes zu pflegen. Die Partei, die sich dies am besten angelegen sein läßt, wird dafür bei den nächsten Wahlen die Früchte ernten.

Auch die Nachrichten, daß beide Koalitionsparteien ruhig und sachlich über die zwar nicht unbedingt notwendige, aber offenbar auf beiden Seiten erwünschte Wahlrechtsreform verhandeln, stärken die Überzeugung, daß Vernunft und Besinnung wieder in die beiden Führerschichten zurückgekehrt sind, nachdem ein monatelanger fruchtloser Streit die Regierung Bundeskanzler Gorbachs in ihrem Bestand ernstlich zu erschüttern drohte.

Dies um so mehr, als es nicht an gefährlichen Zwischenfällen fehlte. Man denke nur an den Konflikt, den der zwar verfassungsmäßig gedeckte, aber in seiner Taktik allzu schroffe Akt des Bundesministers des Inneren gegen den niederösterreichischen Sichevheitsdirektor hervorgerufen hatte. Ein anderer Quenschuß fiel aus Kärnten. Wenn in einem Landtag die Machtverhältnisse 17:17:1 stehen und die eine Stimme ein Kommunist ist, soll keine der beiden Parteien ihren Willen der anderen unter Zuhilfenahme dieser Einzelstimme aufzwingen. Diese Einzelstimme gehört nicht zur „Linken“, sondern ist eine „fremde“ Stimme. Das hat kürzlich ein französischer Politiker treffend charakterisiert, als er erklärte, die Kommunisten stehen weder „links“ noch „rechts“, sie sind einfach „fremd“! Solche Gewaltakte sind Totengräberarbeit an der Demokratie und am Parlamentarismus.

Wenn wir allerdings hören, man beabsichtige, falls die Parteienausschüsse keine befriedigenden

Gesetzesvorlagen zustandebrächten, den fristenreichen Um- und Irrweg in den koalitionsfreien Raum einzuschlagen, dann erhält unsere Hoffnung wieder einen Stoß. Insbesondere dann, wenn man dabei verharrt, unter koalitionsfreiem Raum nichts anderes zu verstehen, als ein starres Festhalten an gegebenen

Parteienadditionen: ÖVP plus SPÖ oder SPÖ plus FPÖ. Das heißt, die Mehrheit durch gekünsteltes Zusammenschließen eines großen und eines kleinen Kollektivs bilden wollen. Wäre nicht der entgegengesetzte Weg geeigneter, zur viel beredeten Aufwertung des Parlaments beizutragen? Koalition bedeutet Festlegung der Abstimmung durch bindende Beschlüsse der beiden Paria-

mentskubs unter Einhaltung des strengen Klubzwangs. Der koalitionsfreie Raum müßte das Gegenteil sein: Jeder Abgeordnete jeder Partei stimmt für oder gegen die Wahlgesetzreformvorlage nach seinem freien Entschluß, den ihn sein Gewissen zu fassen zwingt. Die Abstimmung ist streng geheim; keinerlei Beeinflussung ist statthaft. Weder hündische noch interessengruppenartige Beschlüsse dürfen die Freiheit der Abstimmung beeinträchtigen.

Einen Weg in diesen echten koalitionsfreien Raum einzuschlagen, würde sich fruchtbar erweisen. Regierung und Führung der Parteien würden erkennen, was die Volksvertretung tatsächlich will und was ihre Mitglieder vor ihrer Wählerschaft verantworten zu können glauben und was nicht.

Man scheue vor dieser Freiheit nicht zurück. Nichts entmutigt mehr als die Furcht vor der Freiheit, nichts entkräftigt mehr als der Unmut! Der starre, ständig angewandte Klubzwang ist absolut nicht selbstverständlich. Er ist erst in den Republiken des deutschsprachigen Raumes, im Weimar-Deutschland und in Österreich, ausgeprägt worden. Im Reichsrat der k. u. k. Monarchie kannte man ihn nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn man seine Anwendung im Interesse des Staates oder der Volkswirtschaft für geboten erachtete. In den Parlamenten der Länder, aus denen wir die Vorbilder für unser parlamentarisches Leben bezogen haben, ist der starre Klubzwang bis heute fremd. Sowohl in England wie in Frankreich gebraucht man ihn nur selten. Man bedenke, wieviel Unbehagen er schon oft in der Bevölkerung hervorgerufen hat und welch große Angriffsflächen er den Gegnern der Demokratie und des Parlamentarismus bietet, die man sich billigerweise ersparen könnte.

Sehr richtig hat kürzlich einer der führenden Politiker den Ausspruch getan: In der Demokratie können nicht Lippenbekenntnisse, sondern nur Taten überzeugen! Doch diese Maxime gilt für alle Politiker. Man hat uns doch durch ein halbes Jahr vorexerziert, daß die Zusammenarbeit selbst in der Zeit der Zwistigkeiten funktionieren kann, sonst hätte man die nicht unbedeutenden Gesetze, die in der Zwischenzeit doch zustande gekommen sind, nicht verabschieden können. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, hat ihn die verhältnismäßig unbeschwerte Einigung über den Staatsvoranschlag gebracht.

Die Ausübung der Gesetzgebung durch die unabhängigen Abgeordneten ist die Seele der Demokratie. Die Abgeordneten selbst sind schon Mittler des Volkes. Parteien sind zwar aus technischen Gründen notwendig und entstehen — ob gewollt oder nicht — in jeder Gemeinschaft, erst recht im politischen Leben des Staates, aber sie dürfen nicht die unmittelbare Mittlerschaft des Abgeordneten gänzlich verdrängen und an seine Stelle sich selbst setzen. Die Willensbildung des Abgeordneten darf nicht unbegrenzt beschränkt werden. Sie ist durch unser Verhältniswahlrecht ohnehin nicht völlig frei. Denn je näher der Tag der Neuwahlen kommt, desto mehr muß der sogenannte „kleine“ Abgeordnete darauf Rücksicht nehmen, wie die Parteiführung denkt, sonst könnte seine Stellungnahme auf seine Rei hung bei der Erstellung der Kandidatenliste „abfärben“.

Wenn nun ein neuer Anfang gemacht worden ist und tatsächlich alle Richtungen in den Koalitionsparteien und alle verantwortungtragenden Persönlichkeiten die Möglichkeit, die Berechtigung und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit anerkannten, sollte alles „Störfeuer“ eingestellt werden und es nur der Ehrgeiz der beiden Partner sein, sich an Arbeitseifer, Mäßigung, Verständnisbereitschaft und Sachlichkeit zu übertreffen. E. Strohais Forderung („Kurier“, 2. XI. 1963) ist überflüssig — wie wohl er mit seinen sonstigen Argumenten recht haben mag —, denn beide Partner wissen ganz genau, welche Probleme dringend zu lösen wären; sie sehen sie, auch wenn sie sie nicht katalogisieren.

Aber die Koalition leidet wie seinerzeit die Löwenbabys in Schönbrunn an der „Sternguckerei“. Einmal macht sie das Unke, ein andermal das rechte Auge zu, dann sieht sie alles halb und verzerrt. Mit dieser Unart muß gebrochen werden, soll der „Anfang“ wirklich ein Neubeginnen zu ziélfiihrender Arbeit sein.

Nicht auf Parteienabkommen rnoto: rtniv stütze man sich, sie hängen viel zu sehr vom augenblicklichen guten Willen des einen oder des anderen Faktors ab. Besser ist es, sich der gesetzlichen und verfassungsmäßigen Möglichkeiten zu bedienen. Wo diese aber fehlen, sollten sich die Parteien beeilen, sie zu schaffen.

Die fristenreiche Prozedur des Arbeitsübereinkommens verspricht wenig behende Fruchtbarkeit, es droht eher eine Quelle sinnloser Verzögerungen zu werden. Man hat den Weg zur unmittelbaren Demokratie endlich gefunden, so baue man ihn aus, daß, wenn die Volksbeauftragten, die Regierung und die Volksvertreter, das Parlament, nicht vor-, wärtskommen, das Volk, die Stimmberechtigten, die Auftraggeber, die Vertretenen nun im Wege der Volksabstimmung die Entscheidungen treffen können, die sie wünschen. Verantwortung und Folgen belasten dann nicht die Regierung und nicht das Parlament, sondern das Bundesvolk selbst, von dem nach unserer Verfassung alles Recht der Republik ausgeht.

Gewissenhafte aller Parteien voran! Mögen sie ein Beispiel geben, wie man den ,Anfang“ ausbaut und vollendet. Das Volk wartet darauf.

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