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Wählte Chile rot?

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Unter acht Parteien — darunter übrigens auch einer mehr links operierenden christlich - demokratischen, konnten am vergangenen Sonntag, dem 5. März, 1,8 Millionen Chilenen ihre Kandidaten (25 für den Senat und 147 für die Deputiertenkammer) auswählen. Das Ergebnis — ein nicht zu unterschätzender Gewinn für die allerdings nicht ganz dem kommunistischen Einfluß unterstehenden Linken — ist von der mit parlamentarischen Erfolgen in anderen Teilen der Erde nicht eben reich bedachten internationalen kommunistischen Propaganda sofort weidlich ausgeschlachtet worden. Man kann diese Zahlen aber nur verstehen, wenn man sie in logischorganischem Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung sieht.

Der politische Kampf in dem gerade von der Erdbebenkatastrophe heimgesuchten Andenstaat wurde von dem Gegensatz zwischen der „Rechten” und der „Volksfront” beherrscht.

Präsident Dr. Jorge Alessandri führt seit zwei Jahren eine Rechtsregierung, die aus seinen „Liberalen” und den „Konservativen” gebildet ist. Er ist ein Wirtschaftler ersten Ranges, ein souveräner, um nicht zu sagen starrköpfiger „Gentleman” aus alter Familie und verkörpert in jeder Beziehung das genaue Gegenteil des Demagogentyps, den man so oft unter den lateinamerikanischen Präsidenten antrifft. Er vertritt den „modernen Kapitalismus”, aber in südamerikanischer Art. Die chilenische ..Rechte” hat ein geringes „soziales Gefühl”. (Deutsche „Sachverständige” sind oft über das „Betriebsklima” in den chilenischen Industrien entsetzt, in denen die Arbeiter wie minderwertige Elemente von oben herab behandelt werden.) Aber sie ist politisch sehr tolerant. Zwar beherrscht noch immer der „Kulturkampf” zwischen „Katholiken” und „Freimaurern” die ideologische Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Schicht. Aber Präsident Alessandri wird zum Beispiel als „katholischer Freimaurer” bezeichnet, weil ihn die Katholiken aufgestellt haben, ohne daß die Freimaurer ihn, bekämpfen. (Ein anderes Beispiel für die politische Toleranz: Ein bekannter spanischer Sozialist, Carlos de Baraibar, ist außenpolitischer Leitartikler, der konservativen Zeitung „El Mercurio”.) Präsident Alessandri findet seine Hauptaufgabe in der Stabilisierung der Wirtschaft (seine Feinde sagen: in der „Stabilisierung der Armut”). Er hat die Währungsreform durchgeführt (1000 . chilenische Pesos gleich 1 Escudo gleich 1 USA-Dollar) und die phantastische Inflation gestoppt. (Im ersten Jahr seiner Präsidentschaft stiegen die Preise um 38 Prozent, im zweiten um 5,4 Prozent.) Das südchilenische Erdbebengebiet wird wieder aufgebaut (die Schäden betrugen über 445 Millionen Dollar). Kurz vor den Wahlen hat Präsident Alessandri einen 10-Jahres-Plan bekanntgegeben und aus Washington, von dem Internationalen Weltwährungsfonds, der USA-Regierung und Banken, Darlehen von 150 Millionen Dollar zugesagt erhalten. Seine außenpolitische Haltung ist klar an der Seite der USA, wenn er auch im Kubakonflikt auf Ausgleich drängt und (unter dem Druck der Kupferkrise) die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehun gen zu Moskau aufnehmen will. Die größte Partei, die der sogenannten „Radikalen” (Partido Radical), eine typische des Zentrums, ist zwar in der Regierung nicht mit Ministern vertreten. Alessandri hat aber viele hohe politische Beamte und Diplomaten aus ihr ernannt. Ihre Stimmen verschaffen der Alessandri-Regierung die Parlamentsmehrheit.

Dagegen steht die zweite große Mittelpartei, die der „Christlichen Demokraten” des Senators Frei, in der Opposition. Sie organisiert im Juli 1961 die „Weltkonferenz der christlichen Demokraten”, zu der Delegierte aus Europa, Asien und Afrika erwartet werden und Präsident Kennedy eingeladen wurde, um den „kom- munistisch-castristischen Einflüssen in Lateinamerika” entgegenzuwirken.

Sie werden in Chile von der „Volksfront” (Fr. A. P„ Frente de Accion Popular) vertreten, dem eigentlichen Gegenspieler des Alessandri- Regimes. Ihre wichtigsten Partner sind die in Chile sehr einflußreiche Sozialistische Partei (die acht Sitze im Senat besetzt) und die (seit 1958 wieder legale) Kommunistische Partei. Alessandri hat 1958 den Kandidaten der „Volksfront” (Senator Allende) nur knapp besiegt! Die Masse ist auch in Chile radikalisiert, weil die Löhne (nach den in ganz Lateinamerika scharf kritisierten Richtlinien des Internationalen Weltwährungsfonds) nicht den Preisen angepaßt werden durften. Die Masse der Arbeiter verdiente bis zu der letzten Lohnsteigerung 40 Escudos (1000 Schilling), die der Angestellten 60 Escudos (1500 Schilling) im Monat. Der Konsum der Bevölkerung beträgt pro

Kopf und Jahr 500 Escudos (zirka 12.000 Schilling) und soll durch den 10-Jahres-Plan auf 598 Escudos (15.000 Schilling) steigen. Dabei ist das Leben in Chile etwa so teuer wie in der Deutschen Bundesrepublik. Der billigste Konfektionsanzug kostet 50 Escudos (1200 Schilling), Mittagessen in einem kleinen Restaurant 1 Escudo (25 Schilling). Der Kampf um die Arbeitslöhne bestimmtfc das sozialpolitische Klima im vorigen Jahr. Die Gewerkschaften verlangten — mit schweren Unruhen — eine 3 5prozentige Erhöhung, während Alessandri nur 10 Prozent zugestehen wollte, um nach heftigen Auseinandersetzungen 15 Prozent festzusetzen. Bei den Kämpfen um den Generalstreik zeigte sich wieder, daß die Sozialisten radikaler waren als die Kommunisten, die um jeden Preis neue Maßnahmen gegen ihre Partei verhindern wollten. Die Macht der „Linken”, der „Volksfront”, beruht vor allem darauf, daß sie den Gewerkschaftsdachverband (CUT) beherrscht. Als aber sein Präsident, der 68jährige Clotario Biest (Repräsentant der nicht mehr bestehenden Christlicttsozialen Partei) zum „revolutionären Klassenkampf” aufrief und die Zeit für gekommen erklärte, um in Chile eine Revolution nach dem Muster Fidel Castros durchzuführen, machten die Kommunisten nicht mit. Biest wurde verhaftet und von den ordentlichen Gerichten - dem Appellationsgerichtshof von Santiago — soeben wegen Anstiftung zum Aufruhr auf 541 Tage in den Norden Chiles „verbannt” (eine für politische Vergehen im Strafgesetzbuch vorgesehene Strafe).

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