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Wahl des kleineren Übels

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Die Praxis seit dem 6. März 1966 kennt durchaus Beispiele der Übereinstimmung (Hochschulstudiengesetz, ÖIG-Gesetz u. a. m.). Die Regierungspartei macht geltend, daß sie nun früher von der SPÖ in der Koalition blockierte Gesetze mit Mehrheit beschließen kann (Wachstumsgesetze, Rundfunkgesetz und anderes mehr). Die große Oppositionspartei wieder versucht, glaubhaft zu machen, daß es besser gewesen wäre, wenn sie als Koalitionspartner verschiedene Beschlüsse der jetzigen Regierungspartei blockieren hätte können (verschiedene Tariferhöhungen, Abbau von Preisstützungen u. a. m.).

Solange die Koalition handlungsunfähig, gleichzeitig aber von ihren beiden Partnern als Institution anerkannt war, stellte sie den Wähler vor eine überaus schwierige Entscheidung. Praktisch wurde ihm damit die „Wahl des kleineren Übels“ — nämlich der Koalitionspartei, die die geringere Schuld an der Handlungsunfähigkeit der Koalition trägt — zugemutet.

Die Konfrontation einer regierenden mit einer großen opponierenden Partei schafft da von vornherein größere Klarheit. Wo die ÖVP Entscheidungen trifft, hat sie diese auch zu verantworten. Aber auch die SPÖ hat ihr Dagegenstimmen und die in ihren Minderheitsberichten vorgeschlagenen Alternativen zu ver antworten. Der Wähler der nächsten Nationalratswahl wird zu entscheiden haben, ob die mit Mehrheit beschlossenen oder die von der Minderheit vorgeschlagenen Lösungen die besseren waren. Er wird dabei zumindestens über die Erfahrung verfügen, wie sich die Mehrheitsentscheidungen in der Praxis bewährt haben. Er wird nicht das „kleinere Übel“, sondern die „bessere Lösung“ wählen.

Die erzieherische Wirkung der Konfrontation einer regierenden mit einer großen opponierenden Partei könnte heute selbst dann, wenn beide Parteien die besten Schüler werden, noch nicht im vollen Umfang nachgewiesen werden. Denn der wesentliche Erziehungsfaktor, die nächste Wahlentscheidung, kann erst im Laufe der gesamten Gesetzgebungsperiode wirksam werden. Auf jeden Fall aber besteht ein „Lernzwang“:

Die SPÖ braucht zwar nicht das „Opponieren“ zu lernen — dazu war für sie in der Zeit der Koalition bereits genügend Gelegenheit —, wohl aber muß sie lernen, Mehrheitsentscheidungen diszipliniert hinzunehmen und mit der legalen Methode mehrheitsattraktiver Minderheitsvorschläge zu bekämpfen.

Die ÖVP braucht zwar nicht das „Regieren“ zu lernen — trug sie doch seit 1945 ununterbrochen die Hauptverantwortung für die Regierung —, wohl aber muß sie lernen, auch dort, wo sie früher keine Verantwortung trug, aus eigenem Antrieb zu handeln und für die Handlungen der Regierung die volle Verantwortung zu übernehmen.

Lernen ist schwer

Lernen bereitet Schwierigkeiten. Das gilt auch für Parteien. Aber gleichgültig, ob ÖVP oder SPÖ nun die Mehrheit behalten oder erst erringen wollen, stehen sie doch beide unter dem Zwang, sich am Staatsganzen zu orientieren.

Diese .Orientierung', am Staatsganzen fällt freilich nicht beiden Parteien gleich leicht Die .Volkspartei konstituierte sich schon 1945 als „soziale Integrationspartei“, und ihre populärsten Spitzenpolitiker sprachen schon immer alle Bevölkerungsgruppen an. Wenn sie nun eine „Politik für alle Österreicher“ verspricht, so spricht sie damit nicht nur die Selbstverständlichkeit aus, daß die Regierung für alle da zu sein hat, sondern sie setzt damit auch eine echte Tradition fort.

Die SPÖ hat zwar mit ihrem Wiener Programm 1958 gleichfalls Ansätze zu einer „sozialen Integrationspartei“ erkennen lassen, aber mit einer politischen Praxis, die zu erst die Hilfe der FPÖ für die Bildung einer kleinen Koalition in Anspruch nehmen wollte und dann stillschweigend die Wahlhilfe der Kommunisten in Anspruch nahm, hat sie die Theorie ihres „Programms für Österreich“ selbst zerstört. Es hat die Bedeutung eines Tests, daß sie, statt selbst den Begriff einer „Opposition für alle Österreicher" zu prägen, nur gegen den Begriff einer Regierungspolitik für alle Österreicher polemisiert.

Die Parteien werden den Beweis antreten müssen

Die Volkspartei operiert gegenwärtig mit der Behauptung, daß sie auch dann, wenn sie unpopuläre Maßnahmen setzt, an das Wohl aller Bürger dieses Landes denkt; die SPÖ hingegen operiert mit der

Behauptung, daß die Regierung bei allem, was sie tut oder unterläßt, nur das Wohl einer privilegierten Schicht im Auge hat. Beide Parteien werden für diese Behauptungen den Beweis antreten müssen. Die Volkspartei wird dabei nicht mehr mit den Fehlern einer nicht mehr mitregierenden SPÖ argumentieren können. Aber auch die SPÖ wird sich nicht damit begnügen können, die Fehler der Regierung anzuprangern, ohne zu sagen, wie sie als alleinverantwortliche Regierungspartei gehandelt hätte.

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