Bosnien - © Foto:  Andrej ISAKOVIC / AFP

Wahlen in Bosnien: Wege aus dem Ethnonationalismus

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Es ist noch ein langer Weg, bis Bosnien und Herzegowina eine Demokratie der Bürger – und nicht der Bosniaken, der Serben oder der Kroaten – wird. Dennoch: Die Wahl am vergangenen Sonntag sorgte für einen politischen Paukenschlag.

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Es ist noch ein langer Weg, bis Bosnien und Herzegowina eine Demokratie der Bürger – und nicht der Bosniaken, der Serben oder der Kroaten – wird. Dennoch: Die Wahl am vergangenen Sonntag sorgte für einen politischen Paukenschlag.

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Eines Nachts wagt sich der betrunkene Ćorkan vor den Augen seiner spottenden Kameraden auf die steinerne Brüstung einer Brücke in der bosnischen Kleinstadt Višegrad. Während die Trunkenbolde um Ćorkans Leben fürchten, tänzelt der vom Liebeskummer Geplagte leichtfüßig über das steinerne Gemäuer. So erzählt es Ivo Andrić in seinem Roman „Die Brücke über die Drina“.

Auf dieser symbolischen Brücke, dem Knotenpunkt eines von der Geschichte gebeutelten Vielvölkerstaates, tänzelt Ćorkan im gewagten Balanceakt gesellschaftlicher Umbrüche. Doch die Nacht öffnet Tore für Wunder. Ćorkan überquert die Brüstung erfolgreich und kommt sicher am anderen Ende an.

Auch die Wahlnacht in Bosnien und Herzegowina vergangenen Sonntag hat für Wunder gesorgt. Das Land, das von außen häufig als demokratiemüde verspottet wird, scheint nach Jahrzehnten des Ethnonationalismus vor einem Umbruch zu stehen. Im dreiköpfigen Staatspräsidium haben sich zwei Mitte-links-Kandidaten, der Bosniake Denis Bećirović und der Kroate Željko Komšić, einen Sitz gesichert. Beide konnten sich gegen ihre nationalistischen Herausforderer durchsetzen. Der Mitte-links-Ruck im Staatspräsidium ist deshalb spannend, weil das Präsidium für die Außenpolitik zuständig ist. Als Dritte im Bunde konnte sich die bosnisch-serbische Nationalistin und Wunschkandidatin des Serben-Führers Milorad Dodik, Željka Cvijanović, behaupten. Wie sehr sich die pro-russische Cvijanović mit ihrem Vetorecht in außenpolitischen Fragen durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.

Anders als im Staatspräsidium dürften in den Parlamenten – jenem in Bosnien und Herzegowina und jenem in der Republika Srpska – nationale Kandidaten und somit Interessen weiterhin im Vordergrund stehen.


Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges scheint die Angst vor Konflikten im eigenen Land zu wachsen. Die Inflation und die Corona-Pandemie sowie die Auswanderungswelle stellen Fragen nach wahren politischen Veränderungen Abseits nationalistischer Parolen.

Auch das Ergebnis des für seinen Separatismus und Nationalismus bekannten Milorad Dodik im Kampf um die Präsidentschaft in der Republik Srpska fiel deutlich schlechter aus als erwartet. Erst Ende September ist er zu Putin nach Moskau gereist, um Stärke und seine guten Beziehungen zu Russland zu demonstrieren. Mit wenig Erfolg. Auch in der Republika Srpska gibt es wohl ein – wenn auch nur leichtes – Erwachen aus dem Nationalismus. Dodik ist seiner Herausfordererin, der Ökonomin Jelena Trivić, laut aktuellem Stand der Auszählungen, nur ein paar Prozentpunkte voraus, dürfte die Wahl aber gewinnen.

Die Geister, die sie riefen

Es ist paradox, in welchem politischen System sich der Staat Bosnien und Herzegowina 27 Jahre nach dem Krieg immer noch befindet. Um den bewaffneten Konflikt zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken zu beenden, wurde mit dem Dayton-Vertrag unter der Vermittlung der USA und der EU 1995 eines der komplexesten demokratischen Systeme der Welt geschaffen – ein Vertrag, bei dem sich alle politischen Ämter auf die drei Entitäten fokussieren. Dass das nicht gut gehen kann, zeigt die EU-Osterweiterung. Aufgrund des komplexen Systems und mehrköpfigen Entscheidern ist Bosnien noch weit von einer Mitgliedschaft in der EU entfernt. Der Geist des Ethnonationalismus, den Dayton paradoxerweise rief, wird die EU nun nicht mehr los.

Vor diesem Hintergrund ist der Sieg der Mitte-links-Kandidaten im Präsidium ein umso größeres politisches Beben. Denn: Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine scheint vor allem in Bosnien und Herzegowina die Angst vor kriegerischen Konflikten im eigenen Land zu wachsen. Die Inflation und die Corona-Pandemie sowie die Auswanderungswelle junger Menschen stellen Fragen nach wahren politischen Veränderungen Abseits nationalistischer Parolen. Mit der Ankündigung einer Wahlrechtsreform Seitens des Hohen Repräsentanten Christian Schmid, dürfte das System verwirrend bleiben.

Es ist also noch ein langer Weg, bis Bosnien und Herzegowina eine Demokratie der Bürger – und nicht der Bosniaken, der Serben oder der Kroaten – wird. Doch die Wahlen 2022 haben eines bewiesen: Ćorkan hat sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Das Land ist aufgewacht.

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