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Wahlen in der Türkei: Wie Erdoğan die Gesellschaft verändert hat

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Fast 20 Jahre Erdoğan hinterließen in der Gesellschaft der Türkei Spuren. Von Werbeslogans für Koran-Schulen, Charles Darwin als Sündenbock und einer renitenten Pride-Bewegung.

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Fast 20 Jahre Erdoğan hinterließen in der Gesellschaft der Türkei Spuren. Von Werbeslogans für Koran-Schulen, Charles Darwin als Sündenbock und einer renitenten Pride-Bewegung.

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Es gibt eine Geschichte, die erzählt Recep Tayyip Erdoğan bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zerknülltes Papier kommt darin vor, Stecken, Steine. Mehr Requisiten hat diese Geschichte nicht, braucht es auch nicht, denn es geht darum, dass er und seinesgleichen nie aufgehört haben, trotz ihrer Armut und schlichten Zukunftsperspektiven groß zu träumen.

Erdoğans Geschichte geht so: In seiner Kindheit war der Stein im zerknüllten Papier der Fußball, mit dem sie im Hinterhof ihren Träumen hinterherjagten, die Stecken waren das Tor. „Wie können wir diese Tage jemals vergessen“, sagte Erdoğan vor nicht allzu langer Zeit bei der Eröffnung einer Ausstellung zur türkischen Fußballgeschichte, „die Tage, an denen wir im Schlamm spielten?“ Der Ball aus Stein traf Köpfe und Knie, ließ sie blutend zurück. Die Wunden waren der raue Beginn des Aufstiegs.

Der Aufstieg Erdoğans ist ein Faktum, er ist aber auch eine ausgereift erzählte Geschichte. Neben der nicht stattgefundenen Fußballkarriere – der junge Tayyip galt als begnadeter Spieler – gehören zum biografischen Narrativ seine früh ausgeprägte Frömmigkeit – und vor allem die Konstruktion Erdoğans als einfacher Mann aus dem Volk, aus dem groben Istanbuler Viertel Kasımpaşa, der sich anschickt, den Eliten des Landes das Fürchten zu lehren. Erdoğan inszeniert sich seit Anbeginn seiner Karriere als Vertreter des vernachlässigten Bevölkerungsteils, der Anatolier und Gläubigen, der Traditionalisten und Verlierer.

Wenn sich Waagschalen drehen

Wenn wir uns die Türkei als Balkenwaage vorstellen, dann waren seit der Republikgründung die säkularen Eliten auf der oberen Waagschale, sie waren nicht selten korrupt, uninteressiert, ins anatolische Kernland verirrten sie sich nur zu Wahlkampfzeiten. Erdoğan hat den Ausschlag der Waage geändert. An Korruption, Eigennutz und Ignoranz steht er seinen Vorgängern in nichts nach. Aber er hat die Waagschale gedreht, er hat den bislang Übergangenen vermittelt, dass auch sie ihren gleichberechtigten Platz als Staatsbürger haben. Und das ist bis heute Kern der Erdoğan’schen Erzählung, seinen ganzen Erfolg führt er auf diese Waagschale zurück. Alles, was den Osten (vermeintlich) repräsentiert, gehört heute zum offiziellen Republikverständnis. Die Moscheen, die seit zwei Jahrzehnten aus dem Boden sprießen, das Auflockern der säkularen Strenge, das Erstarken islamisch-religiöser Orden, das Kopftuch, die Rückkehr zum Ursprünglichen.

Mit dieser Offensive hat Erdoğan zweifelsohne einen Nerv getroffen, denn die Voraussetzungen waren ungleich: Die Mittelklasse in den Städten und an der Ägäis-Küste blickte auf die andere Landeshälfte herab. Zu Beginn seiner Amtszeit hat es Erdoğan sogar geschafft, die Waagschalen ins Gleichgewicht zu bringen, als Reformer, als Vertreter eines moderaten Islam, der sich gleichzeitig nach Westen und Osten richtete. Doch diese Zeit währte nur einen Augenblick.

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