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Wahlen ohne Donnerschlag

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Die neue französische Verfassung hat das Parlament um seine allmächtige Rolle gebracht. Es ist nun in diesem Lande nicht mehr Alleinherrscher, und erst die Praxis wird zeigen, ob es sich wenigstens die Rolle eines Mitherrschers hat bewahren können. Die Aufregung, mit der sich alle politischen Gruppen — selbst die mit dem 13. Mai neu in die Politik eingetretenen! — in die Vorbereitung der Kammerwahlen gestürzt haben, läßt auf jeden Fall darauf schließen, daß das Parlament noch zu keiner „quantite negli-geable“ geworden sein kann.

Wie die Wahlen im einzelnen ausgehen werden, kann noch nicht mit Sicherheit ausgesagt werden — ob das Schwergewicht auf der Rechten oder der Linken liegen wird, ob ein Schritt auf ein Zweiparteiensystem (aus Sozialisten und Independants) hin festzustellen sein wird und ähnliches mehr. Aber die Grundentscheidung ist gefallen: es wird keine Kammer sein, die Frankreich ein anderes Gesicht geben wird. Auch wenn viele neue Gesichter in die Kammer einziehen sollten, so wird das keine „Wachablösung“ umwälzender Art sein — es wird sich bei der kommenden Kammer um ein Parlament handeln, das innerhalb des von der Vierten Republik gezogenen Rahmens bleibt.

Gleich nach dem Putsch vom 13. Mai zeichnete sich für die Parteien eine tödliche Gefahr am Horizont ab: Man fürchtete das Auftreten eines geschlossenen „autoritären“ Blockes, der unter den beiden Parolen „Schluß mit dem Parteienregiment“ und „Algerien ist Frankreich“ den Löwenanteil der rund 550 Sitze (statt 630 wie bisher) einheimsen würde. Dem hat schon General de Gaulle, um sich seine Bewegungsfreiheit zu bewahren, durch die Wiedereinführung des Einerwahlkreissystems und das Verbot des Sichberufens auf seine Person einen Riegel vorgeschoben: es dürfte nicht so viel Kandidaten geben, die allein schon durch ihr persönliches Auftreten eine neue Zeit zu garantieren vermögen. Der Einerwahlkreis erschwert ja das Sichverstecken hinter volltönenden Parolen; da schaut sich der Wähler den Mann, der ihn vertreten will im Parlament, doch näher an.

Außerdem besinnt sich im Wahlvolk bereits eine deutliche Abneigung vor den kommenden Wahlen auszubreiten, und damit droht ein Rückfall des Wählers, in dje alte Resignation: „Wozu denn wählen? — Die Neuen sind ja nicht besser als die Bisherigen...“ An dieser für die Fünfte Republik nicht ungefährlichen Entwicklung ist vor allem schuld, daß sich die Wahlvorbereitungen aller Gruppen, auch der neu in die Politik eintretenden, ohne jeden Hauch von Größe abwickelten. Die großen Schicksalsprobleme Frankreichs schienen über Nacht vergessen zu sein; was übrig blieb, war ein wilder Zank von Personen und Cliquen um die zahllosen Kandidaten für die 465 Sitze des Mutterlandes. (In Algerien kommt es zur Listenwahl, um die Wahl von 71 Vertretern Algeriens zu sichern.) „Der Run auf die Krippen, wie gehabt...“ murmelt der Wähler und blättert zum Sportteil weiter.

Zu der Unzahl von Kandidaturen hat allerdings auch beigetragen, daß die von uns schon vor Wochen angedeutete Aufsplitterung der Rechten sich nun radikal vollendet hat: statt eines einheitlichen Rechtsblockes hat der Wähler eine Mehrzahl von in verschiedenen Richtungen auseinanderstrebenden Fraktionen vor sich. Nicht einmal der ..Kolonialismus“ hält diese Rechte mehr zusammen: de Gaulle hat hier als sprengendes Vorbild gewirkt. Leute, die vor einem Jahr noch jede Aenderung des Status quo in Nordafrika als „Selbstmord Frankreichs“ erbittert bekämpften, sind nun anscheinend zu einer weitgehenden Räumung der dortigen Positionen bereit, sofern sie jemand — und das kann nur de Gaulle sein — ohne Verletzung des französischen Stolzes durchzuführen vermag. Genährt von gewissen Wirtschaftsgruppen, die das Kolonialgeschäft längst schon als Verlustgeschäft abschreiben möchten, verbreitet sich diese Stimmung innerhalb der französischen Rechten geradezu epidemisch. Und verwirrender-weise gräbt sie eine Trennungslinie nicht entlang der einzelnen Gruppierungen der Rechten, sondern mitten durch jede einzelne davon hindurch: durch das Offizierskorps, durch den Gaullismus, durch die alte bürgerliche Rechte der „Independants“, durch den revolutionären Rechtsextremismus.

Kein Wunder, daß diese Gruppen zum mindesten im französischen Mutterland unter solchen Umständen darauf verzichtet haben, sich ausschließlich am Algerienkonflikt zu orientieren und sich damit in die Luft zu sprengen. Um einen gewissen Zusammenhält zu bewahren, haben sie darum für den Wahlkampf auf längst überholte innenpolitische Stellungnahmen zurückgegriffen, die in den letzten Jahren über dem Algerienkrieg ziemlich in Vergessenheit geraten waren. Die „Independants“ von Pinay und Duchet entdecken plötzlich, daß die Sozialisten mit ihren Planideen der eigentliche Feind seien. Dabei ist die Sozialistische Partei längst ein völlig inoffensiver Apparat geworden, der bloß alle drei Jahre einmal zur Wahrung des Gesichtes eine im Gesamthaushalt gar nicht ins Gewicht fallende „Reform“ (etwa Guy Möllers Altersrente von 1956) durchzudrücken sucht. . . Die Gaullisten ihrerseits haben nun entdeckt, daß sie nicht an die Seite der „reaktionären Independants“ gehörten, sondern sozial „eigentlich links“ stünden. Beiden jedoch wirft Poujade vor, daß sie bloß das „System“ zu verewigen suchten; er werde darum Sprengkandidaten gegen sie einsetzen. Und ganz außen führt der Rechtsextremismus seine Indianertänze auf, der zwar zahlenmäßig vorerst kaum ins Gewicht fällt, aber immerhin als Auffangstellung für später eine gewisse Bedeutung besitzt. Maurice Bardeche schreibt in seiner Zeitschrift „Defense de l'Occident“:

„Der Kampf zwischen den Gaullisten und den Nationalen hat begonnen. Wenn dieser Kampf in Frankreich angesichts der Desorganisation der nationalen Kräfte ungleich ist, so ist er in Algerien durchaus offen. Die Bewegung, die in Südafrika zur Bildung eines weißen Staates führte, hatte die gleichen Ursachen.“

Wer wird von dieser Zersplitterung der Rechten auf der Linken profitieren? Die Kommunisten kaum. Nur im Proporz vermögen sie eine ihrer wirklichen Stärke entsprechende parlamentarische Vertretung zu erringen; ein Majorz mit zwei Wahlgängen innerhalb eines Einerwahlkreissystems verlockt in einem Mittelstandsland wie Frankreich von selbst zu antikommunistischen Koalitionen. Die Stunde von Mendes und der ihm verwandten, von Guy Mollet abgesplitterten „autonomen Sozialisten“ schlägt erst nach einem allfälligen Zusammenbruch des gegenwärtigen gaullistischen Experimentes. So wird der Gewinner die SFIO, die in ihrem Apparat unerschütterte sozialistische Stammpartei Mol-lets, sejn, mit deren Zuwachs die meisten Beobachter rechnen. Ueberau in Frankreichs Straßen kann man ein Plakat bewundern, auf das ein mit geschwellten Segeln daherbrausendes Segelschiff mit der Marianne als Gallionsfigur gemalt ist. Der Slogan des Plakates mit den drei Pfeilen lautet: „Die SFIO Avantgarde der Fünften Republik.“ Man faßt sich an den Kopf und fragt sich verwirrt, ob diese SFIO die gleiche Partei ist wie jene, welche die eigentliche Je-, herrscherin der Vierten Republik und damit die Hauptschuldige an deren Untergang am 13. Mai war.

Im Ganzen also: Die erste Kammer der Fünften Republik mag anders komponiert sein als die letzte der Vierten Republik. Aber sie dürfte kaum eine Kammer sein, mit der eine neue Aera des französischen Parlamentarismus einsetzt. Es sei denn, daß in den letzten Tagen vor der Wahl noch ein Donnerschlag Marianne aus den altgeliebten Spielen aufschreckt.

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