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Wahlkampf mit Mme. Tussaud

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Schon vor Wochen konnte man es rund um den Globus in den Zeitungen lesen: Plakatschlager der Labour Party im britischen Wahlkampf würde ein Poster sein, auf dem unter der Schlagzeile „Männer von gestern — sie haben schon einmal versagt“ die Führer der konservativen Partei abgebildet sein sollten. Als Gruppe von Figuren aus Papiermache, verzerrt, aber keineswegs bis zur Unglaubwürdigkeit, und mit einer starken Anlehnung an die Wachsfiguren der Madame Tussaud. Im Transport Hause auf dem stillen, kleinen Smith Square, keine fünf Minuten vom Unterhaus, kann man das Plakat als Souvenir kaufen. Auch jetzt noch, nach dar Wahl. Aber man sah es nirgends an den Wänden. Man sah überhaupt fast keine Plakate. Da und dort ein mächtiger, staatsmännisch blickender Wilson, daneben die Parole, mit der die Labours in den Wahlkampf zogen: „Jetzt ist Britannien stark — machen wir es herrlich, darin zu leben!“ Das wäre, wenigstens in London, auch schon fast alles.

Selbst in den „marginal constituen-cies“, den Wahlkreisen, denen auf Grund der besonders knappen Mehrheitsverhältnisse bei den letzten Unterhauswahlen diesmal besonderes Augenmerk geschenkt wurde, schwebte auf riesigen Kommerzplakaten, ein fröhlicher Tarzan Erdnüsse anpreisend in den Himmel, konnte man an Hand der Tabakkrümel, die, durchgezeichnet bis ins Detail, einer auf Metermaß vergrößerten Tabakdose entquollen, den außerordentlichen professionellen Standard der britischen Werbe-photographie (und Drucktechnik) bewundern, verkündeten, offenbar findiger im Improvisieren als die Parteien, die durch den Druckerstreik lahmgelegten Zeitungen ihren Lesern: „Auch wir vermissen Euch!“ Aber keine politische Werbung. Während anderswo Balkansitten siegreich vormarschieren, scheint schottische Sparsamkeit nun die Hauptquartiere der britischen Parteien erobert zu haben. Die auch für britische Verhältnisse ungewohnte werbliche Enthaltsamkeit hatte einen guten Grund. Premierminister Wilson hatte den Wahltermin so knapp angesetzt, daß weder der eigenen Partei noch der Opposition Zeit zu Vorbereitungen blieb. Der gesamte verfügbare Raum für Plakatanschläge war selbstverständlich längst ausgebucht. In Großbritannien äst das Plakat keineswegs tot — es spielt dort in der kommerziellen Werbung eine weit größere Rolle als bei uns, da die Werbezeiten im Fernsehen noch weniger ausreichen. Und die hohen Abstandssummen, mit denen Umdispositionen allenfalls hätten ermöglicht werden können, konnten nicht aufgebracht werden, da der Werbeaufwand der Unterhauskandidaten durch eherne Regeln streng begrenzt ist. Er ist, übrigens, in den Städten noch knapper bemessen als auf dem Land, da ja auch die Fahrtkosten des Kandidaten und seiner Helfer im Etat untergebracht werden müssen.

Die modernen Spielarten der uralten Kunst, dem Volk aufs Maul zu schauen, haben in England einen hohen Grad von Perfektion erreicht. Mark Abrams, der eine Reihe grundsätzlicher Untersuchungen für die Labour Party durchführte, findet die einschlägigen österreichischen Erhebungen den englischen durchaus gleichwertig und beide den veröffentlichten amerikanischen Arbeiten weit überlegen. Politische Meinungsforschung in England und Österreich ist stärker psychologisch orientiert und geht stärker auf die gesamte soziologische Situation ein, in den USA begnügt man sich mit viel be-grenzteren Fragestellungen. So wurde für Labour der Einfluß der schottischen und walisischen Nationalisten auf die Wahlentscheidungen untersucht. Ergebnis: Nationalistische Parolen berühren die Labourwähler nur im Zusammenhang mit einer Welle allgemeiner Unzufriedenheit, von der zum Zeitpunkt einer Juniwahl keine Rede sein konnte. Einen Ansatzpunkt zur Überwindung des „natürlichen Konservativismus“ der Frauen (religiöse Motivationen spielen mit, die Church of England steht dem rechten Flügel der Konservativen nahe) entdeckten die Meinungsforscher in einem Forcieren der modernen Einheitsschule durch die Labour-Regierung — sie hat sich an die Empfehlung gehalten.

Die Labour Party, die sehr viel weniger Geld für die Meinungsforschung ausgibt als die Konservativen (etwas mehr als ein Drittel), gilt für die Ratschläge ihrer Marktforscher sehr viel aufgeschlossener als die Konservativen, denen in der Branche nachgesagt wird, sie seien davon überzeugt, ohnehin alles zu wissen. Der Magie der Polls, der spektakulären, an Wett-Tips erinnernden Wahlausgangs-Prognosen, die von Woche zu Woche schwanken, können sich freilich auch die Konservativen nicht entziehen und sie wären sicherlich nicht so skeptisch, so bereits selbst halb von ihrem Mißerfolg überzeugt in die Wahlschlacht gegangen, würden in England nicht bis ganz knapp vor der Wahl immer wieder neue Umfrageergebnisse auf den Markt geworfen. Niemand kann es verhindern, denn diese Art von Umfragen wird im Auftrag der Zeitungen durchgeführt, das heißt, zwecks sofortiger Veröffentlichung.

Labour konnte es sich sowohl auf Grund dessen, was man unveröffentlicht in der Lage hatte, als auf Grund der jeweils allerletzten Polls leisten, gelassen die Wahl an sich herankommen zu lassen. Der tagelange Zeitungsstreik schien sich anfangs ebenfalls eher für Labour auszuwirken, da die Regierungspartei im Fernsehen besser zur Geltung kam, und das gedruckte Wort als Gegengewicht fehlte. Als die Bombe Powell platzte, durften die Conservatives freilich froh sein, wenigstens einige Tage von den Schlägen der Schlagzeilen verschont zu bleiben. Wer Powell im Fernsehen reden sah und hörte und dann Zeuge wurde, wie jeder Satz und jedes Wort wiederholt, analysiert, auf die Waage gelegt, interpretiert, halb zurückgenommen, halb dementiert wurde, wer diesen Powell im Fernsehen erlebt hat, einen Mann, der mit Wörtern wie mit glühenden Bällen jonglierte, weiß, wie unbarmherzig Öffentlichkeit sein kann. Öffentlichkeit — hautnah, ohne Möglichkeit, sich für eine Sekunde zu verbergen. Da es keine Zeitungen gab, saß ganz England vor der Mattscheibe. Powell drohte sogar dem Fußball die Show zu stehlen. Das hätte niemand gedacht. Freilich, es war keine Show für die Konservativen. Powell, der Mann, der Englands Grenzen für Schwarze und Braune sperren will, mobilisierte nicht nur die Ängste vor den Einwanderern, er mobilisierte mehr, und vor allem wahlwirksamer, die Ängste des liberal denkenden Mittelstandes vor diktatorischen Bestrebungen.

Ein Nebensatz, der einen Anhaltspunkt zu bieten schien, Powell strebe nach der Führerschaft in der konservativen Partei, wurde tagelang gedreht und gewendet. All diese Weichenstellungen gaben der blauen Partei (Blau ist die Farbe des britischen Konservativismus, blau sind seine Wahlaufrufe, blau die wenigen Plakate) wenige Chancen.

Das Gegengewicht bildete nur der persönliche Einsatz.

Der Einsatz der Wahlhelfer — Tausende kleine Mitarbeiter gingen in den letzten Wochen von Tür zu Tür, man nennt das „Canvassing“. Überreichten Aufkleber für Autos, blaue Miniplakate mit dem Namen des konservativen Kandidaten für die Fenster, diskutierten. So manche alte Dame war den Argumenten ironischverhalten diskutierender junger Leute nicht gewachsen, weil sie einfach nicht deren Sprache verstand.

Die Kandidaten selbst gingen nicht von Haus zu Haus, sondern sausten von Rede zu Rede. Auf der blauen Seite machte Maudling ausgezeichnete Figur, ein Mann aus dem innersten konservativen Führungs-kreis, der nicht zuletzt darum so überzeugend wirkte, weil er sich jeder Frage offen stellte und offensichtliche Labour-Verdienste nicht ableugnete.

Auf der anderen Seite warf sich George Brown mit dem vollen Einsatz eines Mannes in die Schlacht, der weiß, daß er verlorenes Ansehen wiederzugewinnen hat.

Die Liste seiner öffentlichen Auftritte in zwei Wochen ist 84 Punkte stark: Reden, Meetings, „Whistle-stop-tours“ (Straßendiskussionen), und so weiter, und so fort. Manchmal sagte er jemandem eine Grobheit, aber sie blieb stets einigermaßen erträglich dosiert. Manchmal verärgerte er einen örtlichen Würdenträger, aber nie so sehr, daß Konsequenzen zu befürchten waren. Manchmal ging er auf einen Photographen los. Aber mehr wie ein Mann, der den Erwartungen seines Publikums gerecht zu werden sucht.

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