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Wahlkampfendspurt in Brasilien: Ein Land sucht einen Retter

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Lula oder Bolsonaro? In Brasilien ist die Stimmung bis zum Bersten gespannt. Von gespaltenen Freundeskreisen über Bedrohung bis hin zu offener Gewalt: Eindrücke aus einer hyperpolarisierten Gesellschaft.

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Lula oder Bolsonaro? In Brasilien ist die Stimmung bis zum Bersten gespannt. Von gespaltenen Freundeskreisen über Bedrohung bis hin zu offener Gewalt: Eindrücke aus einer hyperpolarisierten Gesellschaft.

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Selbst am Unabhängigkeitstag geht es in Brasilien um Gut gegen Böse. Zumindest im Diskurs von Jair Bolsonaro, dem Präsidenten, der sich an diesem Septembertag in der Hauptstadt an seine Anhänger wendet. Die 200-Jahr-Feier integriert Bolsonaro kurzerhand in seinen Wahlkampf, und mit dem Bösen ist selbstverständlich die Opposition gemeint, der linke Partido dos Trabalhadores (PT).

Dessen Spitzenkandidat, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, liegt wenige Wochen vor dem ersten Wahlgang am kommenden Sonntag Umfragen zufolge mit 45 Prozent deutlich vor Bolsonaro (32 Prozent). „Eine Lüge“, ruft der Amtsinhaber ins Mikrofon. Knapp einen Monat zuvor haben sich in mehreren Metropolen des Landes Gegner des Präsidenten versammelt. Ihr Ziel: die „Verteidigung der Demokratie“ und ihrer Institutionen. Grund ihrer Besorgnis sind nicht nur Bolsonaros Attacken auf den Obersten Gerichtshof oder die Medien. Vor allem, dass er seit Monaten vor bevorstehenden Wahlmanipulation warnt, lässt die Anspannung in Brasilien steigen.

Offenbar will Bolsonaro seinem Vorbild Donald Trump folgen. Die Frage ist: bis wohin? Wird er, der einmal sagte, nur Gott könne ihn aus dem Präsidentenpalast holen, eine Wahlniederlage akzeptieren? Wird Brasilien einen Kapitol-Moment erleben, oder Schlimmeres?

Rabiates Herrenmenschentum

Die Bilanz der letzten Monate erschreckt: Anfang Juni werden der Experte für indigene Völker Bruno Pereira und der britische Korrespondent Dom Phillips im Amazonasgebiet ermordet. Im Juli erschießt ein Bolsonaro-Anhänger in Foz do Iguaçu den Polizisten Marcelo Arruda, ein PT-Mitglied, der an jenem Abend seinen 50. Geburtstag feiert. Wenige Tage zuvor ist bei einem Auftritt Lulas in Rio de Janeiro ein selbstgebastelter Sprengsatz explodiert, ohne jemanden zu verletzen.

Im September schließlich ersticht ein Bolsonarista im Bundesstaat Mato Grosso nach einem politischen Streit einen PT-Sympathisanten. Wie angespannt die Lage ist, zeigt sich auch in Barretos, einem staubigen 100.000-Einwohner-Städtchen im Bundesstaat São Paulo. Es liegt in einer von Agrarbusiness und Fleischproduktion geprägten Region und ist weithin bekannt für das jährliche Rodeofestival, eines der weltweit größten.

Quer durch Freundeskreise und Großfamilien tut sich immer mehr eine Kluft auf, rund um die eine Frage: Bolsonaro oder Lula? Selbst zum Anlass eines „churrasco“, einer der in Brasilien innig geliebten Grillpartys, steht sie im Mittelpunkt. Larissa, Leiterin der Verkaufsabteilung einer Firma, und ihr Mann, der Schwimmlehrer Pedro, beide Anfang 30, berichten, dass sich ihr Umfeld immer mehr in zwei Lager teilt. Beide machen sich große Sorgen um die Demokratie im Land, die Wirtschaftskrise, die Zukunft.

Sollte Bolsonaro die Wahl gewinnen, denken sie daran, nach Italien auszuwandern. Pedro spielt ein Lied des Rappers Criolo Doido an, eine düster-lyrische Bestandsaufnahme über gesellschaftlichen Verfall, Umweltzerstörung und drohenden Faschismus. „Ainda Há Tempo“ heißt es, „Noch ist Zeit“. Neulich hörte er es und dachte an die Freunde, die ihm abhandenkommen. „Ich habe geweint wie ein Kind.“

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Warum sich seine Leute Bolsonaro zuwenden? „Sie fallen auf diese Propaganda herein“, erklärt Pedro. Die Korruption bekämpfen, hart gegen die uferlose Kriminalität im Land vorgehen: Wegen solcher Ankündigungen wurde Bolsonaro, Ex-Militär und heute Hauptmann der Reserve, fast drei Jahrzehnte lang ein Hinterbänkler im Kongress, 2018 zum Präsidenten gewählt.

Seine Tiraden gegen Homosexuelle, Frauen und die nicht von Europäern abstammende Bevölkerung, Gewaltfantasien gegen linke Oppositionelle und die offene Bewunderung der brasilianischen Militärdiktatur nahmen viele dafür entweder nicht ernst oder in Kauf. Über sein rabiates Herrenmenschentum wird routinemäßig hinweggesehen. Diejenigen, die den amtierenden Präsidenten ein zweites Mal ins Amt wählen wollen, haben sich an einem Wochenende vor der Maracanãzinho-Sporthalle in Rio de Janeiro versammelt.

Auffällig an ihnen ist eigentlich nur, dass nahezu alle Accessoires in den Landesfarben Grün, Gelb und Blau tragen. An den Wäscheleinen, an denen die Ware der Devotionalienhändler aushängt, finden sich Shirts, die wie Fußballtrikots aussehen, doch sie tragen Losungen wie „Meine Ideologie heißt Brasilien“, „Meine Partei heißt Brasilien“ oder Bolsonaros Wahlsprüche: „Gott. Heimat. Familie. Freiheit.“ und „Brasilien über allem, Gott über allen“.

Gefängnisaufenthalt als Manko

Der Flaggenverkäufer Evando steht seit fünf Uhr am Eingang. „Ich bin bei allen Events hier. Fußball, Karneval, alles!“ Evando hat den Präsidenten auch gewählt und wird das wieder tun. Wegen der Korruption, die er auch Lula anlastet, und damit das Land sich wandele, „vom Schlechten zum Guten“. Was hält er von der zunehmenden Gewalt von Bolsonaro-Anhängern? „Es gibt Gute und Schlechte auf beiden Seiten“, weicht Evando aus.

Er selbst findet, Politik müsse friedlich bleiben. Und die Drohung Bolsonaros im letzten Wahlkampf, als er sich ein Kamerastativ schnappte, wie ein Maschinengewehr anlegte und aufrief, PT-Mitglieder zu „füsilieren“? – „Das war nur so dahergesagt. Eine Pose.“

Wird er, der einmal sagte, nur Gott könne ihn aus dem Präsidentenpalast holen, eine Wahlniederlage akzeptieren?

Drinnen in der Halle ertönt alle paar Minuten die eigens komponierte Wahlkampfhymne „Der Hauptmann des Volkes“, die Bolsonaro als Mann Gottes und Beschützer der brasilianischen Familie preist. Als er in blütenweißem, kurzärmeligem Hemd auf der Bühne erscheint, entlädt sich ein wahrer patriotischer Orkan.

Bolsonaro dankt zuerst seiner Frau Michelle, die einer evangelikalen Gemeinde angehört. Sie personifiziert die Verbindung zu den Freikirchen, die in Brasilien in jeder noch so kleinen Stadt Gemeinden haben. Ein heiserer Prediger fordert die Menge zum Gebet auf, „im Namen von Jesus“.

Letzte Ausfahrt vor der Barbarei

Bolsonaro und sein Kampagnenteam wissen: Für einen Wahlsieg muss der patriotische Bombast mit religiöser Rührseligkeit abgeschmeckt werden – und dem richtigen Verhältnis von Herz und Hetze. Im Plauderton erzählt er Schwänke aus seinem Alltag. Er klagt, die Lockdowns hätten der Ökonomie geschadet, und zieht unter großem Jubel über den Obersten Gerichtshof, den „Gewerkschafter Lula“ und seinen „hasserfüllten Diskurs“ her.

Die eben noch beseelt blickenden Gesichter verzerren sich. Wütende Zwischenrufe klingen durchs Rund, der „Dieb“ müsse zurück ins Gefängnis. Genau das freilich hat Lula Ende 2019 nach anderthalb Jahren Haft verlassen, da in seinem Korruptionsverfahren noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Nicht nur in der brasilianischen Linken sprach man zuvor von einem Schauprozess, um Lula für die Wahlen 2018 aus dem Verkehr zu ziehen, die Bolsonaro gegen ihn kaum gewonnen hätte.

Im Juli 2022 nun wird der inzwischen 76-Jährige offiziell wieder als Kandidat benannt – im Rahmen mehrerer linker Parteien, die nun ihre Kräfte bündeln wollen. Der Ort seiner Kür ist ein modernes Veranstaltungszentrum in Brasília. Geladen hat nicht der PT, sondern der Listenpartner Partido Socialista Brasileiro.

Lula wird im Angesicht der autoritären Bedrohung als letzte Ausfahrt vor der Barbarei präsentiert. Er fordert demokratische Kräfte, Unternehmer, Intellektuelle zu einer Allianz auf und wirft einen Blick in den Rückspiegel, der zwischen Wehmut und Zorn schwankt: „Unser Land hatte alles, was ein Land brauchte, um zu wachsen.“ Lula zählt die Segnungen seiner Amtszeiten auf: Mindestlohn, Arbeit, Zugang zu den Universitäten, Bekämpfung des Hungers. Die „Zerstörung der vorherigen Politik“ kreidet er der heutigen Regierung an, vor allem die 33 Millionen Brasilianer, die an Hunger leiden. „Es ist nicht normal, dass Kinder an Unterernährung sterben. Wir brauchen Leute, die an Humanismus glauben.“ Dann fordert er seine Anhänger auf, auf die Straßen zu gehen, die Demokratie zu verteidigen, zusammenzustehen, in diesem „wichtigsten Moment der Geschichte dieses Landes“.

Erinnerungen an Lula

Wie immer hängen die Anwesenden gebannt an den Lippen dieses Mannes. Und wie immer singen sie, sobald seine Rede beendet ist, das Lied, das sie seit Jahrzehnten singen: „Olé olé olá, Lula, Lula!“ Ein paar Blöcke weiter stehen an diesem Nachmittag zwei junge Männer auf dem Grünstreifen abseits der Straße. Sie kommen aus dem 40 Kilometer entfernten Valparaíso. Auf zwei großen Transparenten fordern sie Lula auf, die Privatisierung des staatlichen Unternehmens Eletrobrás rückgängig zu machen, um die Kosten für Elektrizität zu senken. Gustavo ist 26 Jahre, sein Freund Danillo 22, beide sind arbeitslos. Was für Erinnerungen haben sie an die Zeit unter Lula, die begann, als sie Kinder waren?

„Das erste Auto, das meine Familie kaufen konnte, war wegen Lula, und das erste Haus auch“, sagt Danillo entschieden. Gustavo nickt. „Lula ist auch heute noch die Hoffnung der Armen.“ Aus dem Fenster eines vorbeifahrenden Wagens schallt ihnen eine Tirade entgegen, von der nur der Name „Bolsonaro“ verständlich ist. Gustavo ist besorgt: „Ich habe Angst, dass Lula die Wahlen gewinnt, aber die Bolsonaristas mit mehr Hass antworten. Eben fuhr ein Auto dreimal um uns herum, und jemand schrie: ‚Wir werden euren Präsidenten umbringen.‘“

Standbild Navigator - © Foto: Die Furche

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