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Wahlreform?

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Seit der Einführung des Verhältniswahl- rechtes stehen sich zwei Parteien der Wahlrechtstheoretiker schroff gegenüber. Die einen vertreten die Meinung, ein Wahlrecht sei nur dann gerecht, wenn es in der repräsentativen Demokratie auch tatsächlich alle politischen Meinungen und Strömungen im Volkskörper möglichst mit mathematischer Genauigkeit zum Ausdruck bringt. Der Volksvertretungskörper soll nach ihrer Auffassung ein genaues Spiegelbild der politischen Kräfte in der gesamten Wählerschaft wiedergeben. Die extremsten Ver-’ treter gehen sogar so weit, daß sie das politische Mandat vom Volksganzen loslösen und einfach auf die Wähler allein übertragen wollen. In der Weimarer Republik zum Beispiel geschah dies so, daß auf eine bestimmte Anzahl von Wählern, sagen wir auf 60.000 Stimmen, die auf eine Partei lauteten, ein Mandat entfiel. Im Extremfall hätten 60.000 Stimmen, verstreut über das ganze Staatsgebiet, zu einem Mandat führen können. Daß ein so in die Volksvertretung gelangter Abgeordneter keinerlei territoriale Bindung hätte, bedarf keiner näheren Erläuterung.

Von sozialistischer und scheinbar auch von seiten der Freiheitlichen Partei Oesterreichs strfebt man eine Abänderung unseres Wahlrechtes an, das zwar nicht so weit geht, aber doch von der Bevölkerungsstärke der Wahlkreise ab- sehen und die Mandate nur nach der Wählerzahl bestimmt wissen will. Unser gegenwärtiges Wahlrecht hat sich von diesen unorganischen und mechanistischen Vorstellungen, für die der abstrakte Wähler alles und das lebendige Volk nichts ist, ferngehalten. Unsere Verfassung schreibt vor, daß die 165 Mandate, aus denen sich der Nationalrat zusammensetzen soll, zunächst nach dem Proporz auf die einzelnen Wahlkreise aufzuteilen sind, und zwar nach der Stärke der Einwohnerzahl. Das bringt es mit sich, daß Wahlkreise, die kinderreich sind, eher zu einem Mandat kommen, als kinderarme Wahlkreise; das heißt, unsere Verfassung wünscht, daß auch jene Personen, die das Wahlalter noch nicht erreicht haben, indirekt durch die Volksvertreter in der gesetzgebenden Körperschaft zu Worte kommen, weil ihr Wahlkreis oder zumindest eine Anzahl von kinderreichen Wahlkreisen zusammen mehr Abgeordnete als kinderarme Wahlkreise stellen. Dieser Regelung liegt offenbar die Ueberlegung zugrunde, daß ein Volk nicht aus einzelnen abstrakten Individuen besteht, sondern aus einem Gefüge von Familien. Daß unsere Sozialisten dafür kein Verständnis haben und eine Abänderung zugunsten der Verteilung der Mandate ausschließlich nach den Wählerziffern fordern, beweist, daß sie in der Soziologie des 19. Jahrhunderts steckengeblieben sind, die in verhängnisvoller Weise immer . wieder von abstrakten’ Individuen statt vom lebendigen Menschen ausgegangen ist.

Die Weimarer Methode ist gänzlich abzulehnen, weil man bei ihr überhaupt nicht mehr von einer Volksvertretung reden kann, sondern nur noch von einer Parteienvertretung, bei der sogar das Schwanken der Wahlbeteiligung darüber bestimmt, wieviel Sitze die Volksvertretung aufweist. „ Auch die sozialistische Forderung wirkt nicht überzeugend, denn es soll ja nicht der einzelne Wähler, sondern das in Wahlkreisen organisierte Staatsvolk eine Vertretung finden. Und da ist gerade im Zeitalter der Familienpolitik die Rücksichtnahme auf kinderreiche Gebiete unwiderlegbar berechtigt. In dieser Hinsicht spricht also alles dafür, daß wir bei unserer Aufteilung der Mandate bleiben.

Die andere Richtung unserer Wahlrechtstheoretiker ist der Meinung, das Verhältniswahlrecht solle nur die stärksten politischen Strömungen des Landes zum Ausdruck bringen, diese begünstigen, Splittergruppen weitestgehend ausschalten und die stärkste Gruppe auf jeden Fall im Repräsentationskörper so mächtig machen, daß sie über eine regierungsfähige Mehrheit verfügt und auf die Dauer der Gesetzgebungsperiode die Staatswillensbildung entscheidend zu beeinflussen vermag. Sie setzt dabei voraus, daß die so begünstigte staatstragende Partei auf die berechtigten Ansprüche der zur Minderheit verurteilten Gruppen schon in der Erwägung Rücksicht nehmen wird, daß sie in der nächsten Wahl selbst zur Opposition verurteilt sein kann und dann ebenfalls auf rücksichtsvolle Bedachtnahme Anspruch erheben wolle. „Unter Umständen”, schreibt der Hauptvertreter dieser Auffassung, Friedrich Hermens, in seinem Buch „Demokratie oder Anarchie”, „braucht die Minderheit nicht lange zu warten, bis sie zur Macht kommt. Heiter und in sportlicher Haltung wird der Wähler ohne Bitterkeit das Wahlergebnis entgtpgennehmen, und die Mehrheit wird die loyale Unterstützung aller Wähler genießen bis zum nächstenmal.” Eine solche Grundhaltung ist unserem Volk fremd. Wahlen sind hier eine ernste Machtprobe, kein Wettrennen und kein Gesellschaftsspiel.

Wenn man ein für unser österreichisches Volk befriedigendes Wahlrecht baut, muß man sich daher von dessen Ernst leiten lassen, den sein Gerechtigkeitsgefühl erfordert.

Unter diesem Gesichtswinkel muß man die beiden Aenderungen betrachten, die das Wahlrecht in Oesterreich in jüngster Zeit erfahren hat: auf Bundesebene die Einführung des amtlichen Stimmzettels, auf Landesebene die Einführung der 5-Prozent-Klausel statt des Grundmandates.

Der amtliche Stimmzettel, der zunächst vor Jahresfrist im steirischen Landtag zur Anwendung kam und jetzt für die Wahl des National- rat.es vorgeschrieben ist, dürfte sich als Fortschritt auswirken. Die Freiheitliche Partei Oesterreichs erhofft sich davon einen Stimmengewinn, weil sie nun an neue, bisher durch ihre mangelhafte Organisation nicht erfaßte Wähler herankomme. Die Sozialisten erhoffen ähnliches: konservative, meist bäuerliche Wähler, die bisher unter dem „Druck” ihrer Brotgeber nicht nach ihrem wahren Willen gewählt haljen, würden nun für sie stimmen. Die nächsten Wahlen werden aber erweisen, daß beide politischen Richtungen den österreichischen Wähler unterschätzt und ihre Brotgeber gründlich verkannt haben. Der wahre Fortschritt des amtlichen Stimmzettels liegt darin, daß er das Wahlrecht der gelockerten Liste wesentlich reiner als das bisherige Wahlrecht zur Geltung bringt. Denn bisher war es in das Belieben der Parteien gestellt, ob sie Stimmzettel auflegen, die bloß die Parteibezeichnungen enthalten, oder ob der Stimmzettel auch die Kandidatenliste enthält, so daß der Wähler seinen Reihungsvermerk anbringen kann. Diese Verbesserung war allerdings von den Befürwortern des amtlichen Stimmzettels kaum erkannt, auf keinen Fall wirklich gewollt. Daß sie da ist, ist aber ein erfreulicher Fortschritt unserer Demokratie, weil dadurch die Einzelperson des Wahlwerbers stärker in den Vordergrund geschoben wird und das Kollektiv „Partei” naturgemäß wenigstens einigermaßen zurückgedrüngt wird.

Weniger begrüßenswert ist die andere Neuerung: der Ersatz des Grundmandates durch die 5-Prozent-Klausel. Das Grundmandat verlangt, daß eine Partei im Volksganzen wenigstens so stark verankert sein müsse, daß sie in einem Wahlkreis ein Mandat gewinnt. Die 5-Prozent- Klausel bricht hier mit dem Grundsatz, den wir oben als den Ausdruck des Organischen dargestellt haben. Wer ein Mandat in einem Wahlkreis erobert, der wegen seines Kinderreichtums verhältnismäßig wenig Stimmen erfordert„ vertritt einen lebendigen Teil des Volkes; wer aber sein Mandat kraft der 5-Prozent-Klausel mühevoll im ganzen Wahlgebiet zusammen- leppern muß, kann bestenfalls eine Interessengruppe vertreten, zur Not vielleicht eine Gesinnungsgemeinschaft, keinesfalls ein lebendiges Glied des Volksganzeri.

Kehren wir zur Eingangsfrage zurück: Soll das Wahlrecht möglichst leicht eine Mehrheits- bild’ung zustande bringen oder möglichst alle Volksströmungen an der Staatswillensbildungbeteiligen? Die erste Forderung ist rundweg abzulehnen. Die zweite ist durchaus anzuerkennen, dennoch aber ist am Grundsatz der Ableitung des Mandates vom Volksganzen und nicht bloß von den Wählerhaufen, genannt Parteien, festzuhalten. Die 5-Prozent-Klausel ist ein Irrweg. Sie wird den kleinen Parteien nur vorübergehend Freude machen, denn ihre Mandatare werden sich, einmal im Haus der Volksvertretung, an die Rockschöße der einen oder anderen Partei anhängen müssen oder sie werden, wenn sie sich von einer solchen Abhängigkeit fernhalten wollen, zur Einflußlosigkeit verurteilt sein. Sollten sie aber darauf spekulieren, Zünglein an der Waage zu spielen, könnten sie zu einer Quelle der Verderbnis der Demokratie werden, denn sehr bald würde die Bevölkerung einer Volksvertretung, die unter der Fuchtel einer Minderheit stünde, überdrüssig Werden.

Der Wiener Landtag hat die 5-Prozent- Klausel angenommen. Daß sie nichts anderes ist als ein Versuch der Sozialisten, die Kleinst- parteien an sich zu binden, liegt auf der Hand. Die Vertreter der Oesterreichischen Volkspartei haben das Spiel erkannt und den Sozialisten den Paris-Apfel aus der Hand geschlagen. Nun wird es ihre Aufgabe sein, im Nationalrat die Einführung dieser in ihrem Kern unaufrichtigen Neuerung entschieden abzulehnen. Es gäbe eine demokratische Einrichtung, zu der unser Wahlrecht zurückkehren sollte, nämlich: das Recht der Listenkoppelung. Das Wahlrecht der Ersten Republik hat diese Einrichtung als selbstverständlich vorgesehen gehabt. Sollte der Nationalrat überhaupt sich abermals mit einer Aenderung des Wahlrechtes beschäftigen, dann wäre es zweckmäßig, wenn schon der Seitensprung der 5-Prozent-Klausel begangen werden soll, ihn doch wenigstens dadurch zu entgiften, daß man zur Lis.tenverbin- d u n g des ursprünglichen Proporzionalwahl- rechts zurückkehrt.

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