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Wahlt ihr jene, die Steine werfen?
So spektakulär sich diese Einbus-sen der Kongreßpartei auch ausnehmen, so überzeugend sind die demokratischen Voraussetzungen, unter denen sie zustande kamen. Indira Gandhi enthielt sich im Wahlkampf aller unlauteren Praktiken der Massensuggestion. Sie bereiste das Riesenreich kreuz und quer, sprach direkt zu den Massen und erzielte dabei Erfolge, die sich durchaus mit denen ihrer Vorgänger messen können. Daß sie bei einer Gelegenheit mit Steinen beworfen wurde, dann aber den Massen zurief: „Wählt ihr für jene, die Steine werfen?“ und — von einem spitzen Stein an der Nase getroffen, bleich vor Schmerz, doch mit fester Stimme ins Mikrophon sagte: „Was mich beunruhigt, ist nicht, ob meine Partei Erfolg hat oder nicht, sondern eure Zukunft und die Zukunft der Demokratie .in diesem Lande“, stellt nicht nur ihre Schlagfertigkeit, sondern auch ihre Persönlichkeit unter Beweis.
Ferner darf es als Plus der indischen Demokratie verbucht werden, daß die eine Woche lang dauernden Parlamentswahlen ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen sind und die acht geschlagenen Kabinetts-mitglieder sich mit ihrer Niederlage abgefunden haben. Es besteht kein Zweifel, daß Indira Gandhi — wäre sie geschlagen worden — auf ihr hohes Amt verzichtet hätte. Daß sie in ihrem Wahlkreis jedoch weit obenauf schwang, hat dann nicht wenig zu ihrer Bestätigung als P. M. (prime Minister) geführt.
Für das Geschick der Leitung der Kongreßpartei spricht ihr Entschluß, in Westbengalen auf die Seite der Opposition zu treten. Sie tat es aus der Überzeugung heraus, daß eine aus ideologisch sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzte Koalition sich rasch als arbeitsunfähig er-1 weisen wird. Es ist die Überzeugung einer politischen Bewegung, die sich ihrer Sendung als Zentrums- und Volkspartei bewußt ist und nicht nur ihr Erbe als Gandhis und Nehrus Partei und als Schrittmacherin der indischen Unabhängigkeit in die Waagschale der politischen Entscheidung wirft.
Die Kongreßpartei hat bei den letzten Wahlen abermals nahezu 100 Sitze im Parlament verloren, verfügt aber immer noch über die absolute Mehrheit in der Lok Sabha, dem Zentralparlament in New Delhi. In sieben von den 16 Gliedstaaten — Andrah Pradesh, Assam, Gutscharab, Haryana, Madhya Pradesh, Maharaschtra, Mysore — stellt sie weiterhin die absoluten Mehrheiten in den Vidhan Sabhas, den einzelstaatlichen Unterhäusern. Die Kongreßpartei mag heute nicht mehr damit rechnen können, daß sie an der Regierung bleiben wird, nur weil sich die Inder auf Grund der Rolle, die sie bei der Erlangung der Unabhängigkeit von der englischen Kolonialherrschaft gespielt hatte, mit ihr verbunden fühlen. Doch in dem Maße, wie in Indien die Zeit der Einparteiherrschaft vorüber ist, nähert sich dieses Land dem Punkt, da es die Nagelprobe der Demokratie bestehen kann, von der Heinrich Bechtoldt (vgl. Indien oder China, die Alternative in Asien, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1961, S. 52) sagt: „Erst wenn einmal die Macht von der Gründungspartei eines neuen Staates auf legalem Wege, also über den Stimmzettel an die Opposition übergegangen ist und auch eine neue Mehrheit die Spielregeln nicht verletzt, ist das Funktionieren der Parteien erwiesen.“ Wohl gemerkt: Indien hat diesen Demokratietest noch nicht bestanden. Doch es hat dazu wenigstem gute Chancen, bessere als sozusagen alle asiatischen und südamerikanischen Staaten.
Während sich die chinesische Volksdemokratie in einer von Mao gesteuerten Kulturrevolution verzehrt und in nahezu allen asiatischen und afrikanischen Ländern die herrschenden Regimes auf dem Wege des Staatsstreiches an die Macht gelangt sind, weist die indische Demokratie trotz allen Schwierigkeiten eine Kontinuität auf, der man die Anerkennung nicht versagen darf.
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