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Warten auf den 21. Oktober

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Bonn wartet auf einen Tag, den 21. Oktober. An diesem Tag wird sich offenbaren, ob die Mehrheit der Mini-Koalition ein Traum oder Wirklichkeit ist. Sozialdemokraten und Freie Demokraten versichern, es werde bei der FDP keine Dissidenten geben. Bei der Union hingegen hofft man, daß am Ende sechs oder sieben FDP-Abgeordnete nicht für Willy Brandt als Bundeskanzler stimmen. Vereinigt Brandt, nachdem ihn Bundespräsident Gustav Heinemann dem Bundestag vorgeschlagen hat, nicht die Mehrheit der Parlamentsmitglieder auf sich, so kann der Bundestag innerhalb von vierzehn Tagen einen Bundeskanzler mit der gleichen Mehrheit wählen. Kommt die Wahl in dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, wobei die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen entscheidet. Ist diese Mehrheit gleich der Mehrheit der Mitglieder, so muß der Präsident den Gewählten ernennen. Erreicht der Gewählte die Mehrheit der Mitglieder nicht, so hat der Bundespräsident ihn entweder binnen sieben Tagen zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Theoretisch kann also die Wahl des Bundeskanzlers stürmisch werden. Die CDU CSU wird bis dahin noch alle Hebel in Bewegung setzen, um die Mehrheit der Mini-Koalition von zwölf Stimmen, die der Wahltag erbracht hat, zu verringern. Viele Beobachter bezweifeln, daß ihr dies gelingen wind. Aber selbst wenn dieses Bemühen fehlschlüge, müßte sich Brandt auf die knappste aller Mehrheiten stützen, die der Bundestag bisher gekannt hat.

Für die erste Zeit ist allerdings auf Grund der Koalitionsabsprachen zwischen SPD und FDP dafür gesorgt, daß die Probleme, die zwischen beiden Parteien Spannungen erzeugen könnten, nicht zur Sprache kommen. Dies gilt insbesondere für die Mitbestimmung, über die erst am Jahresende 1970 wieder verhandelt werden soll. In der Deutschland- und Ostpolitik sowie in bezug auf die Aufwertung der D-Mark will man indessen zügig voranschreiten.

Nach Brandts Willen soll die Vereidigung des neuen Kabinetts ebenfalls am 21. Oktober erfolgen. Bis dahin werden beide Parteien sicher so viele Vorbereitungen wie möglich getroffen haben, um die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Sehr wahrscheinlich werden in dieser Zeit auch die personellen Veränderungen in den Schlüsselstellen der Ministerien festgelegt sein. Eine ansehnliche Anzahl von Beamten, die der Union angehören, wird wohl den Schreibtisch räumen müssen. Auch in den Funkhäusern und ähnlichen

Institutionen fragt sich mancher, ob seines Bleibens noch lange sei.

Wann zwischen SPD und Union personelle Fühlungnahmen aufgenommen werden, steht noch nicht fest. Vorläufig hat sich Willy Brandt als Außenminister selbst beurlaubt. Er ließ verlauten, nach allem, was geschehen sei. könne er nicht mehr mit Kiesinger im Rahmen des Kabinetts Zusammentreffen.

Manches spricht dafür, daß Kiesinger auf scharfe Angriffe gefaßt sein muß. Schon jetzt werden Stimmen laut, er habe nicht genügend geführt und sei gegenüber der SPD nicht energisch genug aufgetreten, vor allem habe er nicht rechtzeitig erkannt, wie lange der Zug der Mini- Koalition schon unter Dampf stand. Ebenso wird Generalsekretär Bruno Heck wohl dafür herhalten müssen, daß der Wahlkampf zu spät einsetzte, zu einseitig auf Kiesinger abgestellt war und verloren wurde. Möglicherweise wird von dieser oder jener Seite der Rücktritt beider Politiker von ihren Ämtern gefordert werden. Aber wer danach kommen soll, wissen die Kritiker vorerst nicht zu sagen. In Mainz wird man beim CDU-Parteitag sehen, wie weit die CDU entschlossen ist, sich einem scharfen Prozeß der Regenerierung zu unterwerfen.

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