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Warten auf Oktober

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In Abwandlung des Titels des bekannten Theaterstückes von Samuel Beckett, „Warten auf Godot“, kann man die gegenwärtige innenpolitische Lage in Großbritannien mit den Worten „Warten auf Oktober“ umschreiben. Allerdings besteht im Vergleich zum Stück ein grundsätzlicher Unterschied; während sich der Titel des Theaterstückes von der Tatsache ableitet, daß man auf das Erscheinen von Godot wartet, scheint die Regierungspartei sicher zu sein, nach dem Oktober 1964 keine Regierungspartei mehr zu sein. Über dieses in weiten Kreisen der freiwilligen Helfer der Konservativen Partei zum Teil bewußt, teils jedoch nur unbewußt vorhandene Gefühl können auch nicht die überaus selbstsicheren Wochenendreden prominenter Mitglieder des Führungsgremiums der Regierungspartei hinwegtäuschen. Die Ansprache, welche der Minister für Erziehung und Wissenschaft, Mr. Quintin Hogg, in Morecambe in Nordwestengland am vergangenen Samstag hielt, hat zwar auf Grund ihrer Überdeutlichkeit verbreitetes Echo in der nationalen Presse gefunden, aber den kundigen politischen Psychologen eine unterschwellige Empfindung von Schwäche offenbart. Jedenfalls dürften Äußerungen wie jene, daß Oppositionsführer Harold Wilson „eine Art von Barry Goldwater mit verkehrten Vorzeichen“ sei, daß sich unter der Hülle des Dozenten für Nationalökonomie ein kleiner Mann mit den eher rohen wirtschaftlichen Vorstellungen eines Dr. Schacht verberge, nicht geeignet sein, Mr. Hogg und die konservative Sache bei den Wählern populärer zu machen. Der Oppositionsführer konzentrierte sich in seiner Rede in Lancashire hingegen auf außenpolitische Fragen und zweifelte die Zweckmäßigkeit der ablehnenden Haltung der Tones zur multilateralen Atommacht der NATO sowie überhaupt den Sinn einer unabhängigen britischen Atombewaffnung an.

Die bewundernswerte parteipolitische Aktivität Sir Alec Homes hat bisher keinen nachhaltigen Einfluß auf die Ergebnisse der Meinungsbefragungen, die bekanntlich von mehreren unabhängigen Instituten hier in England in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. Um die Chancen der Konservativen unbeeinflußt vom Geplänkel der Parteien im Vorfeld des Wahlkampfes einigermaßen richtig abwägen zu können, muß man einige wesentliche Merkmale der britischen Parlamentswahlen seit 1945 berücksichtigen. Bekanntlich fanden seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien fünf allgemeine Wahlen statt, von denen die ersten beiden die Arbeiterpartei und die letzten drei seit 1951 die Konservativen gewannen. Zwischen 1945 und 1949 betrug der relative Stimmenzuwachs der Tories 7,3 Prozent, zwischen 1950 und 1959 vier Prozent. Diese geringen Veränderungen scheinen die landläufige Ansicht zu unterstützen, daß rund 85 Prozent der Wähler in allen Wahlen unverändert für die gleiche Partei stimmten. Diese Meinung beruht aber offensichtlich auf einem

Denkfehler, da im Laufe eines Jahrzehnts ungefähr ein Sechstel der Wählerschaft durch die natürliche Bevölkerungsbewegung allmählich durch neue Wähler ersetzt wird.Kenner der besonderen innenpolitischen Verhältnisse erklären die geringfügigen Schwankungen der Stimmenanteile der beiden großen Parteien aus der verhältnismäßig hohen Anzahl von sogenannten „marginal seats“ (unter dieser Bezeichnung versteht man in England jene Mandate, die mit einer Mehrheit von weniger als zehn Prozent gewonnen werden). Seit dem zweiten Weltkrieg zählen zu diesen marginal seats rund 110 Wahlkreise. Diese Tatsache macht die Stimmen der „unentschiedenen Wähler“ für das Ergebnis einer Parlamentswahl entscheidend. So läßt sich der konservative Erfolg von 1955 nahezu ausschließlich aus Veränderungen zwischen den Parteien einerseits und dem Lager der Unentschiedenen anderseits erklären. 1959 wurde dann die erste Nachkriegswahl, bei der eine der großen Parteien, nämlich die Konservativen, Stimmen auf Kosten der anderen Großpartei (Labour) gewann.

Jedenfalls zeigt eine Betrachtung der Ergebnisse der allgemeinen Wahlen, daß sich seit Ende des Krieges kein eindeutiger Trend geformt hat. Nach dem Wahltriumph Macmillans im Jahr 1959 wollten zwar einige Kommentatoren einen Zusammenhang zwischen diesem Erfolg und der relativen Zunahme der Mittelklasse entdeckt haben; eine grobe Schätzung der sozialen Herkunft der Wähler der einzelnen Parteien zeigt nämlich, daß zwischen 70 und 85 Prozent des Mittelstandes, aber nur 30 bis 35 Prozent des Arbeiterstandes konservativ wählten. Diese Ansicht wurde bis vor zwei Jahren nahezu widerspruchslos als ausreichende Erklärung angenommen. Die Erholung der Labour-Partei unter der Führung von Gaitskell und seit einem Jahr von Wilson brachte jedoch eine völlige Umkehr der Tendenz der öffentlichen Meinungstests rritesichi sDas Argumen^>cfer SBriäl staadj - den' die einzelnen-konservativen Regierungen erfolgreich sicherten, ginge Hand in Hand mit einem Mehrheitsvorsprung der Tories, ist seit einem Jahr restlos aus dem politischen Kommentar der den Konservativen nahestehenden Zeitungen verschwunden.

Die Antworten auf eine umfangreiche Meinungsbefragung des British Institute of Public Opinion, die 22 Fragen über humanitäre, verfassungsrechtliche, außenpolitische und wirtschafts- und sozialpolitische Streitpunkte zwischen den beiden Großparteien enthielt, scheinen darauf hinzudeuten, daß die kommende Parlamentswahl nahezu ausschließlich auf dem wirtschaftlichen und sozialen Feld entschieden werden wird. Bei den übrigen erwähnten Gebieten ließ sich kein entscheidender Unterschied in den Meinungen von Konservativen und Sozialisten feststellen. Dabei enthielt das außenpolitische Gebiet so schwerwiegende Probleme, wie atomare Abrüstung, Anerkennung von Ostdeutschland und Beitritt zur EWG. Eine große Anzahl von Wählern beider Parteien wünschte zum Beispiel eine Anerkennung Ostdeutschlands. Die Ansichten des einfachen Wählers zu außenpolitischen Problemen dürften jedenfalls am allerwenigsten Gewicht in seiner Entscheidung für oder gegen eine Partei haben. Dagegen beginnen die Klüfte zwischen den beiden großen Parteien sich aufzutun, sobald es um Fragen wie Steuern, nationalen Gesundheitsdienst, Verstaatlichung, Einkommenspolitik und anderes mehr geht. Besonders die Antworten auf die Frage nach Verstaatlichung sollte der Oppositionsführer sorgfältig studieren, da im Durchschnitt sogar mehr als die Hälfte der befragten Sozialisten eine solche ablehnten.

Sicherlich ist es auch den konservativen Wahlstrategen im Hauptquartier auf dem Smith Square bekannt, daß bereits ein Verlust von 5 Prozent der im Jahre 1959 erhaltenen Stimmen eine empfindliche Wahlniederlage zur Folge hätte. Um so mehr werden sie durch das Resultat der voraussichtlich letzten Nachwahl bis Oktober beunruhigt sein, in der die Sozialisten einen Stimmengewinn von 12,5 Prozent verzeichnen konnten. Sollte die Verlagerung zugunsten der Labour Party im ganzen Land dieses Ausmaß im Oktober 1964 erreichen, würden sie mit einer ähnlich großen Mehrheit wie 1945 nach Westminster zurückkehren. Dieses Ergebnis muß die konservative Parteiführung und einflußreiche Wirtschaftskreise um so mehr enttäuschen, als sie für die Werbung bisher erhebliche Summen aufwendeten. Mit dem Vordringen moderner Managementmethoden in der Parteipolitik gewinnt dieser Werbeaufwand immer mehr an Bedeutung, zumal ja der moderne Wähler seine Stimme überwiegend nicht aus ideologischen Gründen abgibt.

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