Macron - © Foto: APA /AFP /Pool /Yoan Valat

Warum Macron versagt - auch wenn er die Wahl gewinnt

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In Frankreich lehrt ein neues linkes Bündnis den Präsidenten das Fürchten. Ist das auch der Anfang vom Ende programm-armer Führer-Bewegungen à la Macrons "La Republique en Marche"? Eine Analyse.

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In Frankreich lehrt ein neues linkes Bündnis den Präsidenten das Fürchten. Ist das auch der Anfang vom Ende programm-armer Führer-Bewegungen à la Macrons "La Republique en Marche"? Eine Analyse.

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Die meisten französischen Politiker haben eine etwas aus der Zeit gefalle Angewohnheit. Sie halten ihre Reden nicht frei, sondern halten sich eng an ein Manuskript. Ein kleiner Papierstoß an Zetteln liegt vor ihnen auf ihrem Pult und sie lesen relativ exakt davon ab, so ihnen der Wind die Vorlagen nicht zerzaust oder verweht. Einen Politiker gibt es freilich, der diesbezüglich keinerlei Ehrgeiz entwickelt. Und so stand Jean-Luc Mélenchon, der Star der vereinigten Linken und Grünen nach seinem Wahlsieg am Sonntag vor dem Mikro und sprach seinen ersten Satz: „Wo hab ich denn jetzt die Zettel mit den Ergebnissen?“

Der Zettel tauchte nicht mehr auf, Mélenchon aber brachte seine Botschaft dennoch auf den Punkt. Nach der ersten Runde der Parlamentswahl mit über 25 Prozent, Kopf an Kopf mit der Partei des regierenden Präsidenten, rief er allen Zuhörern immer wieder zu: „Déferlez!“ – Brecht hervor! – und zwar am kommenden Sonntag, um „das System Macron“ abzuwählen und so den ersten Erfolg von Mélenchons Linksbündnis in einen echten Sieg zu verwandeln, und ihn, Mélenchon, ins Premierministeramt zu schwemmen.

Verfeindete Politiken

Es ist nicht nur das fehlende Manuskript, das Mélenchon von den anderen Politikern unterscheidet. Es ist die zusammengefasste, inkarnierte Kritik an der Form der Politik, an den Techniken der Macht und ihrer Herrschaft – und an ihrer Unantastbarkeit, dargestellt durch Präsident Emmanuel Macron und seine Verbündeten, die Mélenchon vor allem in Unternehmern und Reichen sieht. Macrons Replik war weniger hitzig, aber nicht unbedingt charmanter. Über seine Premierministerin Élisabeth Borne ließ er vor dem Staatsuntergang warnen, sollten die Linken an die Macht kommen, vor der Instabilität und der entsetzlichen Schmach für den Ruf der Grande Nation, geschändet durch den Zugriff Mélenchons.

Macrons ‚Republique en Marche‘ marschiert nicht mehr. Der Gang ins Neue wurde zum Rückschritt in den Stillstand. Marschieren tut jetzt die Linke.

Das wirft nun nicht nur eine recht deftige Zukunft für eine etwaige „Cohabitation“ voraus, sollte Macron tatsächlich mit Mélenchon als Premierminister regieren müssen. Von Toleranz ist da bei beiden keine Spur, auch nicht bei Macron, der versprochen hatte, über die gesellschaftlichen Gräben hinweg die Hand ausstrecken zu wollen. Weiter als bis zu dem Wahlspruch „Alle zusammen“ reichte die Energie dann offenbar doch nicht. Tatsächlich liegt nach dieser Wahl nichts weiter entfernt als eine gemeinsame Basis für alle politischen Parteien.

Denn ohne absolute Mehrheit muss der Präsident für wichtige Gesetze, etwa im Bereich des Pensionsalters und der sozialen Sicherung, nach Zustimmung bei den übrigen Fraktionen fischen. Und die werden ihm das Abkaufen teuer machen. Tatsächlich gibt es nach diesem Sonntag nur eine Floskel, die alle gemeinsam haben – und für die sich kein Bürger etwas kaufen kann: „Vive La République, vive la France“.

Und weil dieses „Vive la France“ inhaltlich so leer geworden ist, sind auch die Wahlzellen derart leer geblieben. Nur noch 48 Prozent Wahlbeteiligung bei den Legislativwahlen bedeuten eine nur noch marginale Legitimierung des Wahlsiegers. Weder Mélenchons Nouvelle Union Populaire écologique et sociale (NUPES), noch Macrons „Ensemble“ haben gesamt gesehen mehr als 12 Prozent aller möglichen Stimmen bekommen. Wahrscheinlich wichtiger als die einzelnen Wahlergebnisse ist eine Ipsos-Umfrage, wonach zuletzt 75 Prozent der Franzosen von der Politik generell enttäuscht seien. Diese Frustration liegt nur zu einem Teil an den Zeitumständen, der Pandemie und der Teuerung.

Sie liegt vor allem an den großen Versprechungen eines Präsidenten Macron, der Frankreich seine Größe zurückgeben wollte und sich dabei in mehr oder weniger bombastischen Paraden erschöpfte. Ein Präsident, der nach den Wahlen versprach, seine „Methode“ zu ändern. Bis heute rätseln die Medien, was die Methode war, vor allem aber, wie die neue aussieht. Von Methode und Inhalt gibt es dafür bei Mélenchon viel zu viel Umstrittenes, das mühsam bei seinen NUPES-Gründungverhandlungen, Verhandlungen mit den Linken und den Grünen, radiert oder hinter vagen Klauseln versteckt werden musste.

Etwa der Ausstieg aus einem gemeinsamen EU-Budget, seine Fundamentalkritik an der NATO und seine lang geübte Verteidigung Putins sind im Vertrag mit den Sozialdemokraten und den Grünen so nicht mehr vorhanden. Aber das allein garantiert nicht, dass sie nicht doch zum Thema werden, wenn sich Mélenchon, wie erwartet, nicht an ein Manuskript hält – denn er hat ja keines. Es kann also auch das neue Bündnis eine wesentlich höhere Zerfalls-Geschwindigkeit aufweisen, als angekündigt.

Anti-Ideologen adieu?

Von oben betrachtet, geht es am kommenden Sonntag aber nicht allein um das Duell zweier Politiker um Pensionen und Sozialreform. Es geht vermutlich auch um eine Zeitenwende in der Politik generell – und das ist durchaus gesamt-europäisch gemeint. Eine Entwicklung, weg vom versuchten liberalen Management der Gesellschaft durch im Grunde anti-parteiliche Bewegungen (wie la Republique en Marche), hin und zurück zu einer ideologie- und prinzipienbewussten Wertekoalitionen, die dem Pragmatismus der vergangenen 20 Jahre abschwören.

Denn tatsächlich konnte und kann Mélenchon, der alte Demagoge mit seiner ruppigen Rhetorik und seinen radikalen Forderungen, den Präsidenten, die Unternehmer und Banken und - alles in allem - die Bourgeoisie beträchtlich in die Defensive drängen. Dagegen hat sich die von Macron 2017 angestoßene „Republique en Marche“ derart verstolpert, dass sie statt „Marsch“ nunmehr zum „Ensemble“ umbenannt wurde, wohl auch, weil der Bewegung jeder Elan fehlte. Es stellte sich heraus, dass die „Bewegung“ ins Neue ein Abmarsch ins Alte wurde.

Am Ende des Wahlabends wurde bezeichnender Weise sogar Frankreichs Parlamentspräsident von Macrons Gnaden, Philippe Seguin, mit der Frage in Bedrängnis gebracht, welche nennenswerten Projekte Macron denn eigentlich auf den Weg gebracht habe. Die Außenpolitik und Verhinderung der Rechten fielen dem Mann ein. Tatsächlich ist Frankreich hinter der Fassade ein Land, in dem nach wie vor jedes fünfte Kind in Armut aufwächst und in dem der Klimaschutz noch immer hinter den Landschaftsschutz gereiht wird. Das „Gemeinsam“ Macrons, ist so gesehen auch ein Angebot für die Franzosen, einen vom netten Gesicht des Präsidenten gezeichneten Stillstand zu bekommen, der ihnen nicht weh tun wird, da die großen Probleme weiter geschoben werden, allen voran im Klimaschutz und in der sozialen Sicherung.

Liberal-Stillstand

Dieser willkommene Stillstand gegen das „Chaos“ – das alles umfasst, was nicht Stillstand ist - ist das einzige wirkliche Wahlversprechen des liberalen Präsidenten. Macron war ein Wall gegen das rechtsextreme „Rassemblement National“ von Marine Le Pen. Nun ist er es gegen die „Linksradikalen“ von Mélenchon. Aber das Problem dieses Präsidenten und der Politik insgesamt in Europa ist, dass sie außerhalb von Sanktionen und Waffenlieferungen zum Ukrainekrieg sehr schlecht ins Tun kommt.

Um einen vermutlich abgegriffenen Vergleich zu bemühen, ist das wie mit einem Boxer, der beständig im Eck steht, die Fäuste zum Schutz über den Kopf gezogen, während die Gegner auf ihn einschlagen. Aber ein Politiker muss daneben auch in schwierigen Zeiten ins Tun kommen. Auch, wenn das einmal das Risiko bedeutet, ohne Spickzettel und Umfragen und ohne der Angst vor den eigenen Finanziers und Seilschaften etwas zu versuchen, einfach weil es richtig ist. Es geht also darum, Jean-Luc Mélenchon in einem einzigen Feld etwas nachzumachen: Man muss, in übertragenem Sinn, den Spickzettel vergessen.

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