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Warum Wählen in den USA gefährlich ist

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In der - 1996 zugegeben lauwarmen - Hitze der Wahlkampfreden, die der amerikanischen Präsidentenwahl am 5. November vorangingen, lobte der seines zweiten Sieges sichere Rill Clinton die USA unter anderem einmal dafür, daß sie die Demokratie erfunden hätten. Ein Versprecher vielleicht, er hatte wohl „re-in-vented“ sagen wollen, keiner hörte hin, keinem fiel es auf, es wird vielerlei gesagt vor einer Wahl, und außerdem kennen die Amerikaner im besten Falle ohnedies nur ihre eigene Geschichte; obwohl selbst der häusliche Irrglaube,, demzufolge Gott die Welt im Jahre 1776 geschaffen habe, bei vielen jüngeren oder neu zugewanderten Amerikanern inzwischen auch bereits auf Nichtverständnis stoßen dürfte. 1776 - was soll das heißen, who cares?

Was diesen Europäer und Auch-Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika bewegt und traurig stimmt, ist nicht Präsident Clintons Anmaßung oder lapsus linguae, wonach Griechen, Römer und Denker der Aufklärung nichts und die USA alles geleistet hätten, was die Demokratie angeht, sondern vielmehr die objektive Einsicht, daß es diese - wie Churchill meinte - immer noch beste Regierungsform, die wir bisher kennen, gerade in den Vereinigten Staaten vielleicht täglich weniger gibt.

Schon früher hatte mich bei amerikanischen Wahlen verwundert und gestört, daß ich im Register jeweils unter der Rubrik einer Partei (in meinem Falle als „Democrat“) eingetragen stand, gleichwohl ich niemals irgendeiner Partei beigetreten war. Wenn, wie es sich für eine Demokratie gehört, die Wahlen geheim waren, wie konnte der Staat dann wissen, welcher Seite ich meine Stimme gab? Nie hatte ich eine Partei oder einen Kandidaten durch mein Wort oder gar Spenden unterstützt. Ich bin kein politisch denkender Mensch, ich bin Schriftsteller und beobachte somit Wahlen wie alles andere auf der Welt, mit offenen Augen. Jetzt, bei dieser letzten Wahl (nicht bei der jüngsten, bei der letzten: ich werde in Zukunft mein Wahlrecht in den USA nicht wieder ausüben, obwohl mein damit verbundener Protest in keiner Weise wahrgenommen werden und mich nur den etwas mehr als fünfzig Prozent [!!] von nichtwählenden Wahlberechtigten zugesellen wird, was den Kandidaten, wer immer sie auch sein mögen, und dem von ihnen in allen Fällen vertretenen Status quo nur willkommen ist!) schaute ich offenbar mit zu weit geöffneten Augen auf das Spektakel, denn nun begreife ich, daß ich in den USA in keiner Demokratie mehr bin.

Längst war mir bekannt, daß es den vor allem in Westeuropa so hochgeschätzten und in der Tageswirklichkeit bestehenden privaten Datenschutz für die Rürger der USA so gut wie gar nicht gibt, ja, daß die Amerikaner, so rechtsempfindlich sie in anderen Rereichen sind, ihn gar nicht fordern, also keine Vorstellung davon haben. Die Verherrlichung des Privatbesitzes hat mit dem Regriff einer Privatsphäre nichts gemeinsam, vielleicht schließen die beiden in den USA einander gar aus. Ich hatte mich damit abgefunden, daß nicht nur die Regierung, sondern jede größere Firma persönlichste und privateste Dinge um den einzelnen registriert und weiß, die jedem Europäer unannehmbar wären. Ich weiß wie jedermann, daß die Gesetze - vor allem im Strafrechtsbereich - so beschaffen sind, daß der Verbrecher alle und das Opfer keine Trümpfe in der Hand hat, daß die Macht der Regierung weit über jede westeuropäische Staatsgewalt hinausgeht. Eine hysterisch-maso-chistische Sucht nach Gerechtigkeit hat gerade diese so gut wie aufgelöst; im trüben Rereich der Rassentrennung und der sogenannten Minderheiten führt das „Wiedergutmachenwollen“ vergangenen Unrechts allenthalben zu Selbstanklage und -kasteiung der weißen, gerade noch mehrheitlichen Revölkerung, die etwas von kulturell-kollektiver Suizidneigung spüren läßt. Nur ja Aufgeben, Sich-Zurücknehmen, nur ja politisch korrekt sein, sich bloß nicht anmerken lassen, daß man vielleicht ein wenig an sich selber glaubt...

Aber zurück zum Schockerlebnis „meiner“ Präsidentenwahl! Wie gesagt, seit jeher störte mich die Einstufung als „Democrat“: wer verpaßte mir eigentlich diese Farbe? “Wie, wenn ich zwischen den Wahlen meine Meinung änderte, wenn ich vom Recht des Rürgers eines demokratischen Landes Gebrauch machte, Kandidaten nach ihrer Person und nicht nach ihrer Partei den Vorzug “zu geben? Nun gut, das stünde mir jedenfalls frei, wie auch immer die Listen mich einstuften, dachte ich. Ich wurde - es liegt schon ein paar Jahre zurück - eines Schlimmeren belehrt. Ich weiß nicht mehr, bei welcher Wahl mir die Augen aufgingen, aber wir wählen in den USA ja recht häufig, so im Zweijahresrhythmus die Vertreter ins Abgeordnetenhaus, dazu noch Rürgermeister, Stadträte, She-riffs und Richter, leitende Funktionäre der Schulbehörden und anderer Ämter, von „propositions“ (Gesetzesvorschlägen), Steuer- und Staatsschuld-Fragen ganz zu schweigen.

Ein Wahlzettel in den USA zwingt daher zur Gehirnakrobatik, zu Vorbereitung und Konzentration. Ein Wahlzettel - es handelt sich um einen Computerstreifen, an die dreißig Zentimeter lang - fordert im Durchschnitt mehrere Dutzende von Entscheidungen. Die Wahl selbst dagegen geht mit ärgerlich-lächerlicher Ungeschicklichkeit vor sich. Der Computerstreifen wird vom Wahlpersonal mit der Hand in einen Metallrahmen eingeführt, darüber thront das Fragen-„Ruch“, bestehend aus zehn oder mehr Seiten. Der Wähler bringt natürlich seine Ab-Stimmungsunterlagen mit sich, denn niemand könnte sich im Wahllokal an so viele Entscheidungsdetails erinnern, und dann wird mittels einer langen festen Nadel die „Stimmabgabe“ jeweils in den unterhalb der Frageseiten liegenden Streifen eingestanzt, und wie gesagt: dreißig oder vierzig oder fünfzig Mal. Am Ende - und so eine Wahl dauert natürlich wenigstens zehn Minuten, viele Rürger sitzen oder stehen (oft ratlos) sehr viel länger davor - wird der Streifen mühselig aus dem Rahmen entfernt und in die Wahlurne eingeworfen. Umständlich wie nirgendwo sonst in der modernen Welt, aber diese Verbindung von intellektueller Komplexität multipler Entscheidungen mit der manuellen Lästigkeit der Handlung stellt natürlich, dessen bin ich mir gewiß, nur einen weiteren gelungenen Versuch der Machtinhaber dar, vor allem die unteren Klassen, jene Millionen ohne Schul- und Weltwissen, von jeder Wahl fernzuhalten. Wer kaum seinen Namen schreiben kann, wie möchte so einer sich vor diesem Instrumentarium zurechtfinden? Gerade dieser Wähler würde es jedoch sein, der Veränderungen an der Machtstruktur bewirken könnte und möchte: die „demokratische“ Wahl als erfolgreiches Fernhalten der unerwünschten Unterklasse. Vielleicht werden Wahlenaus dem gleichen Grund immer an Wochentagen und nicht - wie fast überall in Euro-pa - an Sonntagen abgehalten: Je niedriger ein Arbeiter auf der Hierarchiestufe seiner Firma steht, desto schwieriger wird es für diesen sein, sich zum Zweck der Stimmabgabe von seinem Arbeitsplatz zu entfernen.

Vor ein paar Jahren also entdeckte ich, daß auch der Wahlzettel, der vor meinen Augen in den Rahmen gezogen wurde, mit „Democrat“ bedruckt war. Ein Rlick auf den Tisch der Wahlhelfer belehrte mich, daß die Stimmzettel der „Democrats“ und der „Republicans“ auch verschiedene Farben hatten. Ich verlangte daraufhin den Streifen der Gegenpartei. „Aber Sie sind ein Demokrat, nicht wahr?“, kam verlegener Protest. „Ich weiß nicht, was ich bin“, entgegnete ich, verglich nun beide Stimmzettel und entdeckte, daß in den Rundesstaats- und Kommunalwahlen jeder nur die Namen der Kandidaten der jeweils eigenen Partei enthielt. Es war also (bei einer Präsidentenwahl ist das anders) gar nicht möglich, einem Kandidaten der Gegenpartei seine Stimme zu geben, er kam unter den Optionen nicht vor. Als ich verärgert daraufhinwies, wurde ich - kindlichselbstsicher - belehrt: „Aber wofür brauchen Sie die anderen Namen auf Ihrem Stimmzettel?“

Der Europäer mußte vor so viel rei -ner „Demokratie“ tatsächlich verstummen. Damals hatte ich übrigens noch keinen Anstoß daran genommen, daß jeder Stimmzettel eine aufgeprägte Seriennummer trug, und daß diese Nummer ohne Schwierigkeiten mit dem Namen des Wählers, der vor dem Empfang des Wahlmaterials ja seine Namenszeile im Wählerregister unterschreiben muß, in Verbindung gebracht werden kann. Ich erstickte den Gedanken in mir, wie gesagt, ich denke nicht politisch -und auch übertriebenes Mißtrauen liegt mir nicht.

Ris zum Tag der jüngsten Präsidentenwahlen: Am 5. November hatte ich im Ausland zu tun, weshalb ich meinen Stimmzettel noch vor der Abreise, am 31. Oktober, abgeben wollte. Kein Problem, „absentee ballots“ liegen im Wählerbüro jedes Wahlkreises bereit. Ich fuhr also zum Wähleramt meiner Stadt und verlangte die Unterlagen. Wieder die alte Geschichte, wieder galt ich als ein „Democrat“, wieder standen Dutzende von Entscheidungen zur Wahl. Nur diesmal gab ich meine Stimme per „Rriefwahl“ ab. Als ich fertig war und meinen Wahlzettel abgeben wollte, reichte mir die Angestellte einen vorbedruckten Umschlag, auf dem mein Name, meine Anschrift und meine Wahlnummer geschrieben standen. In diesen Umschlag mußte ich den Streifen mit meinen Entscheidungen stecken, dann mußte ich den Umschlag mit der Zunge befeuchten, verkleben und mit meiner Unterschrift quer über das Kuvert hin - versehen, zum Reweis dafür, daß auch ich es war, der hier seine Stimme abgegeben hatte. Freilich zum Reweis dafür auch, wofür und für wen ich gewählt hatte. Das geheime Wahlrecht, die Seele der Demokratie, wie man mich in europäischen Schulen gelehrt hatte, war tot.

Warum sollte ich mich sorgen? In den USA, dem „freiesten und besten Land der Welt“, erwachsen dem Rürger doch keine Gefahren durch ihren Staat. Absurd ist der Gedanke, daß einmal jemand an die Macht kommen könnte, der seine Gegner, also jene, die nicht für ihn gestimmt haben, bestrafen, schädigen, gar abservieren könnte. Diktatoren dieser Art gibt (oder gab) es doch nur in Europa, oder anderswo, aber nicht in der besten Demokratie der Welt, die noch dazu - es erregte nirgendwo Aufsehen - „die Demokratie erfunden hat“. Auf diese Weise beschwichtigte mich ein Professorenkollege in meinem Institut, als ich meiner Empörung Luft machte. Er sah „no problem“ in meiner Klage, höchstens die Empfindlichkeit eines Europäers, denn „dort drüben wäre freilich alles möglich“. Nicht alles: ein solcher Mißbrauch demokratischen Wahlrechts zum Reispiel nicht.

Wenn ich auch in Zukunft nicht mehr wählen werde, so weiß die Regierung der USA eben doch, wie ich bisher gewählt habe. Nicht daß ich wichtig wäre, aber ich habe Angst, es ekelt mich, wir Europäer sind nun einmal feige und übertrieben empfindlich! Wenn ich daran denke, daß ich einmal, vor einem knappen Vierteljahrhundert nur, die USA bewundert habe als den Ort der fleischgewordenen Aufklärung, dann staune ich, wie rasch ein System oder ein Mensch sich verändern kann - und, wer weiß, das große System vielleicht blitzschneller noch als irgendein Mensch.

Der Autor ist

österreichischer Schriftsteller und Uni versitäts-Professor im kalifornischen San Diego in Kalifornien.

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