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Was blieb vom MRP?

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Überprüft man die zu den französischen Parlamentswahlen aufmarschierten Parteien, entdeckt der Beobachter mit gewisser Verwunderung, daß eine für die Nachkriegszeit maßgebende politische Bewegung, die christliche Demokratie, in diesem Jahr fast vollständig von der Bildfläche verschwunden ist. Hat sich das einst mächtige MRP, welches sowohl 1946 bis 1958 wie auch unter dem Regime de Gaulle bedeutende Persönlichkeiten als Minister stellte, aufgelöst?

Die christliche Demokratie war eine der interessantesten Versuche des Landes, den konservativen und nationalistischen Katholizismus zu überwinden. Die Frage taucht zwangsläufig auf, ob diese Partei, die nach der Befreiung Millionen Wähler gewann und den Typ der nicht totalitären Massenpartei in ausgezeichneter Form prägte, für immer aus dem Kräftespiel ausgeschaltet wurde, oder handelte es sich vielmehr um eine vorübergehende Erscheinung, die durch das Auftreten de Gaulles und der Regierungspartei UNR bedingt war, da die Sammelbewegung bedeutende Wählermassen der Volksrepublikaner für sich zu gewinnen verstand?

Rückzug in die Provinzen

Das MRP verfügt derzeit lediglich über einige sehr begrenzte lokale Organisationen, während das Zentralbüro in Paris vom demokratischen Zentrum Lecanuets übernommen wurde. Der Kandidat für die Präsidentschaftswahl im Dezember 1965 betont sehr oft die europäische Gemeinschaft, die von der gaullistischen Außenpolitik bedroht sei. Er hat jedoch niemals sehr deutlich und in der Öffentlichkeit die Tradition der Volksrepublikaner übernommen. Während sich das MRP stets zur linken Mitte zählte, enge Bindungen an die christliche Gewerkschaftszentrale CFTC pflegte und eine sehr aufgeschlossene Sozialpolitik verfolgte, gerät das demokratische Zentrum trotz aller Beteuerungen in den Sog der UNR und wird bereits heute als möglicher und wahrscheinlich einziger Partner für die künftige Regierungsmehrheit angesehen. Le-

canuet denkt das Zünglein an der Waage zu spielen, aber erst die Wahlen werden erweisen, ob die stimmberechtigten Bürger diesen vielleicht zu subtilen Überlegungen einen entsprechenden zahlenmäßigen Hintergrund gewähren. Wir halten auf alle Fälle fest, daß die Männer des demokratischen Zentrums ohne fest um- rissene Doktrine in die Arena der politischen Auseinandersetzungen treten. Es liegen vorläufig auch keine Anzeichen vor, daß dieses — man darf wohl sagen — Wahlkartell eine zusätzliche christlich demokratische Note erhält. Durch das Gewicht der früheren rechtsstehenden Unabhängigen werden die sozialen Themen doch sehr beschnitten.

Bezeichnenderweise war Lecanuet eigentlich eine Verlegenheitslösung. Das MRP wollte neuerlich in einem Wahlkampf seinen Bestand und die Originalität unter Beweis stellen. Nachdem der von ihnen zum Schluß geförderte Pinay, einst Erzfeind Nr. 1 ob seiner konservativen Haltung, die Ehre einer Kandidatur für die gesammelte Mitte ablehnte, war es Pierre Henry Teitgen, der Lecanuet in einer dramatischen Auseinandersetzung buchstäblich beschwor, diese gefährliche Bürde zu übernehmen. Das MRP hafte bis in die letzten Monate vor der definitiven Aufstellung der Kandidaten eine Lösung Defferre unterstützt, der als Monsieur X herumgereichte Bürgermeister von Marseille wünschte die Sozialisten und das MRP nach dem Beispiel der englischen Arbeiterpartei zu vereinen, um eine Alternative gegenüber den gaullistischen Ansprüchen zu schaffen. Ohne Zweifel hätte diese Gruppierung dem Staatschef sehr gefährlich werden können. Die Aufsplitterung in eine linke Föderation unter Mitterand und ein demokratisches Zentrum halfen dagegen sehr, aus einer relativen Niederlage einen vernünftigen Sieg zu erzielen. Die Vorschläge Defferres scheiterten besonders am Mißtrauen der älteren und mittleren Führungsschichte der SFIO (Section fran- ęaisie del’ Internationale ouvriėe), die in antiklerikalen Reflexen verharrte und noch immer sorgsam die verstaubten Werte einer vielfach durchlöcherten Laizität huldigte. Dazu kam, daß die Kommunisten Frankreichs manierlicher geworden waren. Das Schreckensgespenst Stalinist] scher Herrschaftsgelüste wurde abgelegt, und sie gewannen beachtlichen Einfluß auf die Basisorganisation der Sozialisten.

Heimatlose Mitte

Die überzeugten Anhänger und begeisterten Verfechter der christlichen Demokratie sahen plötzlich, daß sie geistig und politisch heimatlos geworden waren. Die Verzichterklärung des langjährigen Chefs der Volksrepublikaner, Pflimlin, gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung und wurde als Warnzeichen gedeutet, nicht vollständig auf ein großartiges philosophisches Lehrgebäude zu verzichten. Wie kaum eine andere Partei Frankreichs verfügte das MRP über vorzügliche Staatsmänner, brillante Redner und ernsthafte Theoretiker, dagegen fehlte es ihr an Talenten in der Verwaltung, und sie wurde mit den Problemen der Entkolonisierung konfrontiert, für die ihr die Voraussetzungen abgingen. Wir werden das Schicksal einiger dieser Männer verfolgen, die in Paris so lange die Geschicke der Nation mitbestimmten.

• Robert Schuman liebt in der Erinnerung seiner Weggefährten weiter, die in einer besonderen Vereinigung das Andenken des Vaters Europas pflegen. Robert Schuman wirkt durch seine Werke, und Lecanuet betont immer wieder die Paternität des bedeutenden Außenministers in allen Fragen der europäischen Einigung und vergißt selten, diesen Namen zu erwähnen, ein Name, der vom gaullistischen Frankreich nur zögernd und mit Vorbehalten ausgesprochen wird. Die Theorie von europäischen überinteftiationa- len Gemeinschaften zählt zu den verdammenswerten Kindern der Vierten Republik, und der engste Berater Schumans, Monnet, wirkt im Schatten des neuen Staates.

• Maurice Schuman, der Sprecher des freien Frankreichs in London nach 1940, gehört zu den Stützen des gaullistischen Regimes. Als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses der Kammer ist er ein energischer Verteidiger der internationalen Politik des Staatschefs. Er ist der UNR niemals beigetreten, zeichnet aber in seiner Eigenschaft als unab hängige Persönlichkeit für die Beschlüsse des „Aktionskomitees für die Fünfte Republik“. Es handelt sich dabei um ein Organ, dem es allein zusteht, die Aspirantin auf Abgeordnetensitze, soweit sie der Regierungsmehrheit beitreten, zu investieren. Der Einfluß Maurice Schumans auf die außenpolitische Doktrin der Fünften Republik darf beachtlich genannt werden. Dieser bekannte Parlamentarier verlor die enge Tuchfühlung zu seinen früheren Weggefährten des MRP, die in ihm den bedingungslosen Gaullisten sehen. Maurice Schuman hat es entschieden abgelehnt, dem Zentrum Lecanuet irgendwelche Schützenhilfe zu leisten.

• Einer der einflußreichsten Führer des MRP, der an der Wiege der modernen christlichen Demokratie gestanden war, ist sicherlich der oftmalige Ministerpräsident und Außenminister Georges Bidault, der verzweifelt im südamerikanischen Exil und in relativer Armut seine Tage verbringt, allein getröstet durch seine tapfere Gattin. Bidault leitete den obersten Rat der Widerstandsbewegung und hat in düsteren Kriegsjahren Beweise von großer Standfestigkeit und Mut erbracht. Der überzeugte Antifaschist und bekannte Redakteur der christlich-demokratischen Tageszeitung „l’Aube“ wurde in das Drama des Algerienkrieges verwickelt. In den zahlreichen Komplotten vor dem 13. Mai 1958 spielte er eine nicht un erhebliche Rolle, und der Mann, der einmal am linken Flügel seiner Partei stand, verband sich mit extremen Rechtskreisen. Bidault isolierte sich immer stärker in seiner eigenen Partei, das MRP verweigerte ihm schließlich die Mitarbeit, als er vom Präsidenten Coty zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. Dies trieb ihn in die Dissidenz, und er gründete eine eigene Partei, die als Splittergruppe nach kurzer Zeit der Selbstauflösung verfiel. Bidault wurde ein erbitterter Gegner der von de Gaulle ausgearbeiteten und beharrlich vorgetragenen Politik, Algerien die Selbstbestimmung zu gewähren. Als die rebellierenden Generäle und Obersten die terroristische Geheimarmee OAS begründeten, billigte Bidault dieses gegen die Staatssicherheit gerichtete Unternehmen. Ja noch mehr, er wurde nach seinen eigenen Worten, „Von einem Widerstand zum anderen“, Leiter der zivilen Abteilung der OAS. Nach dem vollständigen politischen Versagen der Geheimarmee flüchtete Bidault durch Italien, die Schweiz und Deutschland und wurde aus der Bundesrepublik auf Betreiben des Bundeskanzlers Adenauer ausgewiesen, bis er schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung in Sao Paulo in Brasilien erhielt. Dort lehrt er an der lokalen Universität politische Wissenschaften, verfaßt Bücher und Artikel und verzehrt sich nach Zeugnissen spärlicher Besucher in Sehnsucht nach Paris.

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