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Weiße Stadt im grünen Land

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Der Besucher Finnlands gewinnt, wenn er nach einer Fahrt durch die bewaldeten Schären, an alten Festungswerken vorüber, die aus dem blauen Meer aufsteigende, breit hingelagerte „weiße“ Stadt Helsinki erblickt, einen ersten guten Eindruck. Dieser verstärkt sich, wenn er Land und Bewohner näher kennenlernt. Denn überall erkennt er, daß dieses fleißige, selbstbewußte und dabei doch so bescheidene Volk auf dem besten Wege ist, die schweren Kriegsschäden — die finanziellen Verpflichtungen gegenüber Rußland sind bereits erfüllt — zu beheben und das Land, dem so lange die Selbständigkeit vorenthalten war, trotz vieler natürlicher Schwierigkeiten in Freiheit einer glücklicheren Zukunft zuzuführen.

Bis zum Jahre 1801 gehörte Finnland zu Schweden, bis 1917 zu Rußland. Wenn es sich auch stets einer gewissen Selbständigkeit erfreuen konnte, so scheint doch die Fremdherrschaft sehr drückend empfunden worden zu sein, nach dem tiefgehenden Gegensatz (wenn man nicht gerade von einer Feindseligkeit sprechen will) zu schließen, der noch heute zwischen der finnischen und der schwedischen Volksgruppe besteht. (Nur 8.6 Prozent der die Viermillionengrenze knapp überschreitenden Bevölkerung sind Schweden, die hauptsächlich in den südlichen und westlichen Landesteilen, also in den wirtschaftlich wertvollsten Gegenden siedeln, durchaus eigene, von den Finnen völlig unabhängige Organisationen besitzen und in der Regierung sowie im Parlament durch angesehene Männer, wie den Außenminister Törngren, vertreten sind.)

Finnland umfaßt heute 336.937 km2, ist also mehr als viermal so groß wie Oesterreich, nachdem es nach dem Waffenstillstand vom 19. September 1944 wertvollste Gebiete im Süden (Karelien) sowie den für den Export aus den nördlichen Landesteilen so wichtigen Zugang zum Weißen Meer, im ganzen 45.792 km2, hatte abtreten müssen. (Das auf Grund des später abgeschlossenen Friedensvertrages an Rußland verpachtete, 390 km2 große Gebiet von Pork-kala, 20 km westlich von Helsinki entfernt, wurde im Frühling 1956 vorzeitig, freilich aber auch ziemlich verwüstet, wieder an Finnland zurückgegeben.)

Kennzeichnend für das Land sind seine Wälder: dichte Fichten- und Föhrenwälder im Süden, immer schütterer und niederer werdende Birkenwälder im Norden, die schließlich — schon weit über dem Polarkreis — bei einer mittleren Jahrestemperatur von — 1 bis — 3 doch bei Sommertemperaturen von 12 bis 15 — nur noch den Charakter von Büschen besitzen, in ihrem Wachstum unseren Legföhren nicht unähnlich.

In dieses endlos scheinende Meer von Bäumen, das rund 70 Prozent der Landesfläche einnimmt, sind zahllose tiefdunkle Seen eingebettet, die weitere 10 Prozent einnehmen, dann auch verstreut liegende Bauernhäuser mit angrenzenden Feldern und Wiesen und — meist erst wieder in sehr großen Abständen — größere Dörfer und Städte. Das gesamte landwirtschaftlich genutzte Land bleibt flächenmäßig hinter jenem der Seen und auch jenem der unproduktiven Fläche zurück, der Sümpfe und der Felsen und der fast menschenleeren Oedländereien im Hohen Norden, wo in Abständen von' Dutzenden Kilometern gerade nur 2300 Lappen mit ihren Renntierherden leben. Das landwirtschaftlich genutzte Land weist aber eine sehr bemerkenswerte Zunahme auf: Noch im Jahre 1880 wurden nur 8200 km2, im Jahre 1955 aber (ohne Marshall-Hilfe!) 24.000 km2 als Acker genutzt, freilich zu 90 Prozent nur durch den Anbau von Klee-Gras-Gemenge. (Durch die damit verbundene Verbesserung der Futtergrundlage wurde auch die Voraussetzung für die gewaltige Steigerung der Milchwirtschaft geschaffen.)

Das wirtschaftliche Rückgrat Finnlands — das weder Kohle noch Metalle, weder Oel noch — wegen des geringen Gefälles — starke, ausbaufähige Wasserkräfte besitzt — bildet der Wald, der allen jenen Grundeigentümern, die im Durchschnitt 33 ha bestandene Fläche besitzen, die Einnahmen liefert, die der Acker allein niemals bringen könnte. Den Kleinbauern — 80 Prozent aller besitzen weniger als 10 ha Acker — aber bringt der Wald einen guten Nebenverdienst, der Industrie den Rohstoff und — bei dem Umstand, daß der Wert des ausgeführten Holzes und der daraus hergestellten Erzeugnisse 80 Prozent des Gesamtexportes ausmacht — dem Staate die Mittel, um Einkäufe auf dem Weltmarkt tätigen zu können. (Neben der holzverarbeitenden Industrie spielt die erst nach dem Kriegsende unter dem Zwang der Reparationsverpflichtungen an Rußland entwickelte Eisenindustrie und der Schiffbau eine verhältnismäßig bescheidene Rolle.)

Um die Ruinen des Krieges wiederaufzubauen und die drückenden Verpflichtungen des Friedensvertrages zu erfüllen, waren Leistungen notwendig, die das ganze Volk mit bewundernswerter Tatkraft durchgeführt hat. Als Beispiel diene die Versorgung der aus den verlorenen Landesteilen geflüchteten 420.286 Menschen. Diese erhielten Land, teils aus dem staatlichen Besitz, teils im Ausmaß von rund 200.000 ha aus einer Landabgabe aller Grundeigentümer, die je nach der Größe ihres Besitzes 10 bis 80 Prozent ihres Bodenbesitzes zur Verfügung stellen mußten. 42.000 neue Höfe wurden gebaut, 18.750 km2 Land besiedelt und — wie schon erwähnt — zum erheblichen Teil in Ackerland umgewandelt. Bei jeder Fahrt durch das Land stoßt man noch immer an vielen, wenn auch nur einigermaßen günstig scheinenden Stellen auf neue Rodungen. Gewaltige Maschinen reißen mit finanzieller Hilfe des Staates, der 40 Prozent der Kosten trägt und billige Kredite beistellt, den steinigen, mit Wurzeln durchwachsenen Waldboden auf, der nun erst mühsam entsteint, entwässert und durch mehrmalige Bearbeitung und Kalkung in gutes Kulturland umgewandelt werden muß. Die Holländer pflegen zu sagen: „Gott schuf die Welt — ohne die Niederlande. Dies haben erst die Holländer besorgt!“ Man ist gerne geneigt, wenn man diese Arbeit sieht, denselben Satz auch auf Finnland anzuwenden.

Unter anderem wurde auch der Besitz vieler Kleinbauern, die erst im Jahre 1918 durch den begünstigten Erwerb ihrer früher nur gepachteten Liegenschaft selbständige Besitzer geworden waren, um durchschnittlich 7 ha — hievon 1 H ha Ackerland — erweitert, wodurch ihre Lebens- und Leistungsfähigkeit wesentlich gesteigert werden konnte.

Auch die Witwen und Waisen nach den gefallenen 83.000 Männern sowie die 50.000 Kriegsbeschädigten konnten versorgt und wieder in den Afbeitsprozeß eingeschaltet werden. (Darauf ist auch der auffallend große Anteil der Frauen unter den Werktätigen zurückzuführen.)

Es ist klar, daß sich diese — ursprünglich aus der Not der Zeit geborenen — Maßnahmen schon in naher Sicht auf die ganze Wirtschaft wohltätig auswirken müssen. Freilich — auch auf das muß hingewiesen werden — war all dies nur deshalb möglich, weil den Finnländern in ihren großen Waldgebieten reichlich Flächen zur Verfügung stehen, die mit Aussicht auf Erfolg, wenngleich auch nur mit größter “Mühe, kultiviert werden können.

In diesem Zusammenhang sei auch noch auf die Tatsache verwiesen, daß der Wiederaufbau der Städte, die bei der Räumung Finnlands zerstört wurden, um ein Nachrücken der Russen zu verhindern (in Rovaniemi blieben nur 200 von 2000 Gebäuden erhalten) im wesentlichen abgeschlossen ist, wie auch jener der Eisenbahnen und Brücken: von 736 zerstörten Brük-ken sind wieder 671 hergestellt, die teilweise zu gleicher Zeit — auf einer Fahrbahn — dem Eisenbahn- sowie dem Wagenverkehr dienen. Es wurden ferner sehr viele Schulen errichtet — oft mitten im Wald —, in welchen auch die in der Einschicht lebenden Kinder die gründliche Ausbildung genießen, welche die Weiterentwicklung des Volkes gewährleisten. (Kinder, die einen sehr weiten Schulweg haben, wohnen in der Schule.)

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